Heute mag sich kaum noch jemand daran erinnern, aber es gab eine Zeit, in der die Aktienkurse NICHT Teil der Nachrichten waren. Eine Zeit, in der nicht nach jedem Weltereignis gefragt wurde, wie wohl „die Märkte“ darauf reagieren.
Das war die Zeit, als es noch eine Konkurrenz der Systeme gab.
Zu dieser Zeit war die Welt in zwei Hälften zerfallen. Im Osten lief das Sozialismus-Experiment und wie das enden würde, wußte damals noch keiner. Aber eins war klar: Wenn der Sozialismus siegen würde, dann wäre das das Ende für die Privatwirtschaft. Wirtschaftspolitik hieß damals also, Politik so zu gestalten, dass Sozialismus nicht besser aussieht, als das, was man selbst hat. Und so beeilte man sich, was immer auf der Ostseite der Mauer als Errungenschaft hoch gehalten wurde, auch im Westen einzuführen. Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, Urlaub, Rente, Kindergarten. In Konkurrenz zu einem System, das sich zumindest auf die Fahnen geschrieben hatte, den Menschen in den Mittelpunkt zu stellen, konnte man es sich nicht leisten, das nicht auch zu tun.
Und so gab es eine Zeit, als in den Nachrichten noch Menschen auf der Straße befragt wurden. Als es Politker-Interviews gab und die Leute sich wirklich dafür interessierten, was die zu sagen hatten. Und zwar aus einem einfachen Grund: Die sagten auch tatsächlich was. Das war vielleicht nicht immer korrekt. Aber es war verständlich. Als Franz-Joseph Strauß sagte, „Ich weiß, daß ich ein führendes Mitglied des Vereins für deutliche Aussprache bin.“ hat er das genauso gemeint. Und er ist verstanden worden. Und die Menschen da draußen, die heute ja nur noch als „Wähler“ bezeichnet werden, die hatten den Eindruck, dass er sie meint. Und dass ihre Meinung zählt.
Selbst die, die mit Details der Politik nicht einverstanden waren, hatten keinen Zweifel daran, dass die führenden Politiker in letzter Konsequenz davon ausgingen, dass es die Menschen waren, die diese Republik ausmachen und dass sie sie im Blick hatten. Helmuth Schmidt nannte einmal als verbindendes Element aller, dass alle führenden Politiker damals den Krieg erlebt hätten und sich einig darin waren, „So eine Scheiße darf nie wieder passieren.“
Und jeder verstand das damals so, dass er damit die Scheiße meinte, die den Menschen passiert war. Den Menschen! Von Märkten war damals noch nicht die Rede. Man redete noch über Menschen.
Der Mensch war die Maxime. Das war damals.
Damals, als der gesamte Vorstand der Deutschen Bank ein Dreißigstel dessen verdiente, was heute ein einziges Vorstandsmitglied verdient. Damals, als sich ein designierter SPD-Bundeskanzler noch in ein Reihenhaus in Langenhorn zurückzog und nicht in den Aufsichtsrat einer Gaspipeline, die er selbst während seiner Amtszeit vorangetrieben hatte.
Was war zwischendurch passiert?
Die Konkurrenz war in die Knie gegangen. Die sozialistische Hälfte der Erde hörte einfach auf, zu existieren. Und es passierte, was immer passiert, wenn ein Monopol entsteht: Der Monopolist bestimmt die Richtung. Und die ist immer da, wo er ist.
Plötzlich stand überall nur noch eins im Vordergrund: Geld.
Und weil „Geld“ so schmutzig klang, nannte man es einfach „Markt“.
Das war die Zeit, als die Börsenkurse Einzug in die Nachrichtensendungen fanden.
Die Zeit, in der nach jedem Ereignis gefragt wurde, wie die Märkte wohl reagieren würden. Die Zeit, von der an Politiker es als ihre vorrangige Aufgabe sahen, auf die Märkte zu achten und auf ihre Reaktionen, weil eine einzige falsche Bewegung sich wie im Butterfly-Effekt in den Märkten widergespiegelt, zu einer unglaublichen Katastrophe ausweiten konnte. Selbst Politiker, die sich für Menschen einsetzten, schielten jetzt auf „die Märkte“. Denn wollte man die Menschen schützen, musste man die Märkte im Auge behalten. Im Auge – nicht unter Kontrolle. Denn Kontrolle, das hatten die Märkte gleich klar gemacht, Kontrolle haben sie nicht gern. Und wenn sie was nicht gern haben, dann sind sie verärgert und wenn sie verärgert sind, kann das zu nichts Gutem führen.
Und so wurde aus der Politik für die Menschen eine Politik für die Märkte.
Für die Menschen zu sein wurde künftig übersetzt mit „für die Märkte“ zu sein.
Und diese Übersetzung hat nicht jeder verstanden. Und das lag auch daran, dass man so damit beschäftigt war, auf die Märkte zu schauen, dass irgendwie keine Zeit mehr war, auch noch die Menschen mitzunehmen.
Die Bankenrettung war so ein Beispiel. Kaum jemand hat verstanden, dass „die Banken“ wir alle sind. All unsere kleinen Sparkonten, Omas Lebensersparnisse, all das, das ist die Bank.
In einem Land mit hoher Sparquote heißt die Banken hops gehen zu lassen, alle Sparer hops gehen zu lassen. Und das sind in Deutschland die meisten. Das war eine vollkommen andere Situation als in Island – das ja gern als heroischer Bankenrettungsverweigerer gefeiert wird – wo die Mehrheit der Isländer verschuldet war und die Mehrheit der Einlagen aus dem Ausland kam. Namentlich aus England übrigens, wo isländische Banken massive Werbung für ihre hohen Zinsen gemacht hatten. In letzter Konsequenz haben also die Isländer die Spargroschen von Engländern verfrühstückt. Kein Wunder, dass das in Island nicht auf Widerstand gestoßen ist.
Das alles ist nicht schwer zu verstehen. Man hätte es nur einfach mal erklären müssen.
Wurde aber nicht für nötig erachtet, denn man musste ja mit „den Märkten“ reden. Mit denen übrigens, die diese Krise, die noch immer eine Krise der Menschen werden kann, verursacht haben und zwar, weil ein einziges international operierendes Unternehmen einfach schneller und wendiger ist als eine Politik, die mit uferlosen Debatten und Abstimmungen leben muss. Goldmann Sachs hat eine Lücke schneller genutzt, als sie die Politik schließen kann. So einfach ist das. Und so gefährlich.
Und so ist es kein Wunder, dass alles auf die Märkte schaut und keiner auf die Menschen. Und es ist auch kein Wunder, dass man sich um die Märkte kümmert, wenn man die Menschen meint.
Das hätte man den Menschen aber mal sagen sollen. Dann hätte man vielleicht vermieden, was jetzt passiert:
Es ist nämlich auch kein Wunder, dass sich Menschen abwenden von einem System, das sich von ihnen abgewendet zu haben scheint.
Und genau das ist es, denke ich, was nun in Amerika passiert ist.
Als Donald Trump seine Präsidentschaft bekannt gab (ich glaube, niemand hat sich darüber mehr erschrocken als er selbst) sprach er präzise zu den „Forgotten men and women“ und versprach ihnen, dass „They will be forgotten no more“.
Wir wissen alle, dass nicht nur Trumps Hautfarbe die eines Goldfischs ist. Auch seine Aufmerksamkeitsspanne steht im Ruf, die von Dorie nur knapp zu überschreiten. Er wird die Menschen, die er damit angesprochen hatte schon in der Sekunde vergessen haben, als er den Satz beendete. Aber – und das muss man ihm leider lassen – er hat sie angesprochen. Er hat ihnen das Gefühl gegenben gehört und verstanden worden zu sein. Oder irgendjemand in seinem Strategischen Team hat das.
Was also heißt das nun für uns?
Für uns heißt das: Wir sind am Arsch. Denn in den nächsten 9 Monaten wird keine der Parteien glaubhaft machen können, dass ihnen plötzlich doch noch eingefallen ist, dass sie ja eigentlich Politik für die Menschen machen sollten.
Was sie noch tun können, ist sich die Mühe zu machen, zu erklären, dass sie damit nie aufgehört haben. Sie könnten sich erklären und zwar so, dass sie auch von Otto W. Paschulke verstanden werden. Denn es ist seine Stimme, die sie wollen. Was sie tun können, ist zuzugeben, dass sie sich verfahren haben in den letzten Jahren. Dass sie so damit beschäftigt waren, sich auf eine schnell verändernde Welt und ihre Anforderungen einzustellen, dass sie gelegentlich falsch abgebogen sind. Das ist menschlich. Das kennen wir alle. Wer den amerikanischen Wahlkampf verfolgt hat, wird wissen, wie viel Menschen zu verzeihen bereit sind, wenn nur einer kommt und sagt, dass er sie sieht, dass er sie versteht und dass er sich für sie interessiert.
Politiker könnten endlich mal wieder reden wie normale Menschen. Das wäre mal ein Anfang. Sie könnten eine Meinung haben und sie so vertreten, dass sie auch jedermann versteht. „Ausländer raus“ ist einfach einfacher zu verstehen als „Eine geregelte Zuwanderung von qualifizierten Arbeitnehmern aus Drittländern ist hinsichtlich des demographischen Wandels unerlässlich.“ Die Angst, sie würde keiner mehr wählen, wenn sie sich nicht „konsensfähig“ ausdrücken, dürfte inzwischen doch eindeutig der Erkenntnis gewichen sein, dass man nicht gewählt wird, wenn man nicht deutlich macht, was man denn nun genau denkt und tut.
Klartext ist das einzige, was uns jetzt noch hilft. Das ist es, was ich denke.
Und damit wäre ich dann auch bei uns selbst. Wir müssen auch aufhören, Kreide zu fressen. Wir müssen aufhören, uns um Verständnis für die „besorgten Bürger“ in unserer Mitte zu bemühen. Wir müssen das Kreuz durchdrücken und ihnen sagen, was wir wirklich sehen: Dass eine Meinung Wissen voraussetzt und dass ihnen durchaus zuzumuten ist, sich eben das anzueignen. Dass sie NICHT das Volk sind, sondern dass sie Schande über uns bringen und über das Land, an dem ihnen ja angeblich so unglaublich viel liegt. Dass es nichts Unpatriotischeres gibt, als die Werte mit Füßen zu treten, für die die Menschen vor uns gekämpft haben und gestorben sind. Dass sie uns ins Gesicht spucken, die ihre Rente und ihre Stütze erarbeiten und dass wir nicht bereit sind, das ohne Widerspruch hinzunehmen.
Dass nicht jede Langeweile und jede Befindlichkeitsstörung mit einem Anspruch gleichzusetzen ist.
Wir müssen auch den Arsch in der Hose haben, uns unbequemen Wahrheiten zu stellen. Dass die Justiz die rechtlichen Möglichkeiten, die sie hat, nicht nutzt. Dass Libertinesse niemanden schützt und die beleidigt, die sich jeden Tag für unseren Schutz einsetzen, die den Arsch für uns hinhalten und sich dann auslachen lassen müssen.
Dass der Schutz der Menschen gelitten hat. Und dass das auch der Schutz der Menschen ist, die hier Zuflucht suchen. Dass man über Jahre ausgerechnet an dem gespart hat, was für uns am wichtigsten sein sollte. Denn wenn wir eins von der Flüchtlingskrise lernen können, dann, dass es nichts Wichtigeres gibt als Sicherheit. Soziale. Innere. Und emotionale.