Frau Fricke wundert sich über Sieger

Einmal im Jahr wache ich unter Applaus auf. Und davon, dass mir jemand durch ein Megaphon zuruft: „Du schaffst das!“ „Ist nicht mehr weit!“ „Du bist ein Champion!“ Könnte das nicht immer so sein?

Es ist Marathon-Sonntag. Einmal im Jahr wird die ganze Stadt abgesperrt, damit Menschen aus aller Welt unter meinem Fenster vorbeirennen können. Dreiunddreißigtausend Leute sollen da mitlaufen. 33.000! Das sind ganz schön viele. Und alle bekommen im Ziel eine Decke, eine Medaille und eine Portion Paella. Ganz vorne aber laufen – natürlich – die Stars.

Das sind die, die dafür bezahlt werden, hier zu sein. Die, die irre schnell laufen können, viel schneller als alle anderen und die, deren Namen man am nächsten Tag in der Zeitung lesen kann.

Die Stars verpasse ich immer.

Denn die Stars laufen als Allererste los. Rennen lautlos durch die Stadt, begleitet nur von Kamera-Wagen und Ihren eigenen Teams, die nebenher radeln, um sicherzustellen, dass es den Stars auch wirklich gut geht. Natürlich geht es denen gut. Die sind Profis. Die scheinen sowas jeden zweiten Sonntag zu machen. Heute in Boston, morgen in Berlin. Für die ist dieser Sonntag business as usual.
Die Stars sind schon längst im Ziel, wenn ich geweckt werde.

Ich wache auf, nachdem die erste Staffel der Normalos vorbeirennt. Die richtig, richtig guten Normalos. Das sind die Leute, für die das hier nicht das erste Rodeo ist. Die, die wissen wie man sich vorbereitet und das auch getan haben. Die, die Eiweißschlürfis dabei haben und ihr eigenes Wasser. Die, die die genaue Menge Nudeln kennen, die zwischen Sieg und Niederlage am nächsten Morgen liegt. Die haben sich auf alles vorbereitet. Man erkennt sie daran, dass sie regelmäßig auf ihr Handgelenk schauen. Denn da ist ihr Messinstrument befestigt. Richtig gute Normalos laufen nicht einfach nur, um zu laufen. Richtig gute Normalos haben ein Ziel: Besser zu sein, als beim letzten Mal. Und besser sein drückt sich, wir wissen das alle, selbstverständlich in Zahlen aus. Also, müssen sie schnell sein. Aber nicht zu schnell, damit sie der Hammermann nicht kriegt. Ich hatte mal Besuch von so einem richtig guten Normalo, der mir nach dem Rennen ausführlich erzählt hat, was für ein vollkommenes Desaster er hatte. Ich habe besorgt gefragt, ob ich ihn zum Arzt begleiten soll und ihm versichert, wie leid es mir tut, dass er nicht ins Ziel gekommen war. Ins Ziel gekommen? Natürlich war er ins Ziel gekommen. Aber eben nur im Mittelfeld. Ein totales Desaster! Was soll ich sagen?

Heute jedenfalls bin ich immer noch nicht wach.

Denn die Wecker nehmen jetzt erst Aufstellung. Nach den richtig, richtig guten Normalos kommen die normalen Normalos. Das sind die, die sich am meisten auf diesen Marathon gefreut haben. Für viele ist es der erste. Für alle ist das hier der Tag, auf den sie sich lange, lange vorbereitet haben. Der größte Tag des Jahres. Vielleicht sogar der größte Tag des Lebens. Hier laufen die, die noch immer gar nicht fassen können, dass sie dabei sind. Die, die schon fast geplatzt sind, als sie sich die Startnummern abgeholt haben. Die, deren Familien und Freunde mit ihnen angetreten sind, um Fotos zu machen. Glaubt einem ja sonst keiner.

Für die und mit denen versammeln sich jetzt die, die meine heimlichen Helden sind: Die Leute, die mich wecken. Die Leute, die am Straßenrand stehen.

Die haben nichts zu gewinnen.

Die sind einfach nur da, um zu unterstützen. Manche bleiben nur eine Weile, entfalten ein Transparent auf dem sowas steht „Los Klaus, du schaffst es!“ und kaum ist Klaus vorbeigelaufen, sind sie auch schon weg. Andere bleiben den ganzen Vormittag. Stehen in der Kälte, klatschen sich die Arme lahm, brüllen Hunderte von Malen: „Es ist nicht mehr weit! Das schaffst du.“ „Ihr seid Helden!“ „Bravo, bravo, bravo!“ „Gib jetzt nicht auf!“ Manche strecken besonders erschöpften Läufern ihre Hand zum Abklatschen hin, als würden sie so einen Packt besiegeln: Ich glaube an dich und du gibst nicht auf. Ich habe Läufer weinen gesehen vor Rührung und nicht wenige, die zurück-applaudieren, weil sie etwas wissen, das morgen nicht in der Zeitung stehen wird: Diese Helden am Rand, die Klatscher, Minibands und die Trommler, die Megaphonisten und Kinder-Cheerleader-Gruppen, die machen den Unterschied zwischen Sieg und Niederlage aus. Die sind es, die euphorischen Läufern den Spaß an der Sache geben. Und sie sind es, die Desillusionierten die Hoffnung geben, dass es doch noch irgendwie weitergeht. Manchmal gehen die Leute vom Straßenrand sogar ein Stück mit, einfach nur, um erschöpften Läufern zu sagen: Ich bin hier. Ich bin bei dir. Du musst das nicht allein schaffen.

Keiner von denen am Straßenrand ist für seine persönliche Bestzeit da. Keiner von denen ist überhaupt für sich da. Alle sind für andere hierher gekommen. Für alle anderen. Für die Gemeinschaft. Und für die Party. Denn gemeinsam etwas für andere zu tun, sie zu unterstützen, sie zu amüsieren und zu rühren, das macht richtig Spaß!

Während die Profis und die sehr, sehr guten Normalos ganz für sich allein hier sind, für sich und ihre persönliche Bestzeit, sind die Randfiguren für Andere und mit anderen hier.

Keiner von denen bekommt eine Decke für seine Bemühungen. Es gibt keine Medaille für die beste Unterstützung und niemand wird von deren Heldentaten lesen oder sich nach ihnen erkundigen. Es gibt keinen Lohn, außer dem, der in der Magie des Augenblicks liegt.

Aber ohne diese Claqueure und Förderer wäre alles nichts.

Man kann erstaunlich viel über Führung lernen, wenn man im sechsten Stock über einer Marathon-Strecke wohnt.

Man kann lernen, dass es eine Menge Leute für die persönliche Bestzeit eines einzelnen braucht.
Man kann lernen, dass das denen mit der persönlichen Bestzeit meist nicht klar ist.
Und man kann lernen, wie viel Spaß es macht, anderen dazu zu helfen, das Beste aus sich heraus zu holen.

Die größte Erkenntnis: Die wahren Helden gehen hinten

Denn kurz vor dem Besenwagen kommen die, die alle Kraft aufbieten müssen, um ins Ziel zu kommen und dennoch nicht aufgeben. Die Geher, die Latscher, die Kriecher. Da kommen die, die es selbst geschafft hätten, aber langsam gehen, um jemanden zu begleiten, der nicht mehr kann. Da kommen die schlecht trainierten Gruppen in T-Shirts für die gute Sache, für die sie Geld sammeln und die, die Behinderte vor sich her schieben.

Aber ganz, ganz am Ende gehen all die nach Hause, die auch für die letzten Läufer noch geblieben sind.
Die wahren Helden.