Frau Fricke wundert sich über geteiltes Leid

Geteiltes Leid, so sagt man, sei ja halbes Leid. Ob das wohl der Grund ist, warum sich Leute plötzlich Leid zu Eigen machen, das gar nicht das eigene ist?

Neulich hatte ich Besuch. Die Bekannte einer Freundin, die mir selbst zunächst nicht bekannt war, kam zum Tee und wollte Näheres über die politische Situation in Katalonien wissen. Sie ist Journalistin und da ist es ja ein hehres Ziel, möglichst viele Leute nach ihrer Sicht der Dinge zu befragen – vor allem, wenn die politische Situation so vertrackt und vielschichtig ist, wie die hier.

Wir sitzen. Wir trinken Tee. Sie fragt. Ich antworte. Und nebenbei erwähnt sie, dass ihr Mann später auch noch käme. Der sei ja Katalane. Also jetzt im Herzen. Nicht in echt.

Ich erstarre einen Augenblick, denn ich ahne, was mich da erwartet. Die absolut eifrigste Verfechterin der katalanischen Sache, die ich kenne, ist nämlich auch eher Katalanin im Herzen, heißt Karin und wohnt in der Nähe von Düsseldorf. Gelegentlich macht sie Urlaub in einem Gebiet, das ihrer Auskunft nach so etwas wie das europäische Afghanistan ist, wo freie Rede unbekannt ist, wo man nicht wählen darf und wo man quasi unter Fremdherrschaft einer Monarchie steht, die man bis ins Mark ablehnt. Dieses Volk, mit dem sich Karin aus mir nicht gänzlich nachvollziehbaren Gründen eins fühlt, erleidet Unterdrückung und Verfolgung und die beginnt bei dem für sie offensichtlichen Versuch, die katalanische Sprache auszumerzen. Aber da hat man natürlich nicht mit Karin gerechnet. Karin spricht Catalan – mit einem so deutschen Akzent, dass man es bei flüchtigen Hinhören für Tschechisch halten könnte, aber – bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Als wir einmal eine Führung im Museum besuchten, bestand Karin darauf, dass die auf Catalan durchgeführt wurde, obwohl zwei Touristinnen aus Segovia und ich kein Catalan sprechen. „Pech“, sagte Karin zu denen mit ausgesprochen angekränkelten Brustton „wir sind nun mal in Katalonien. Ob es euch passt oder nicht.“ Der große Vortrag aber ist ihnen erspart geblieben. Der Vortrag, in dem man erfährt, welch bitteres Unrecht Menschen geschieht, die in Katalonien zu leben gezwungen sind. Karin selbst wäre dazu auch gern gezwungen, muss aber im regnerischen Ratingen ausharren. Blöd gelaufen.  Als ich sie das letzte Mal sah, trug sie ein T-Shirt der separatistischen Bewegung. Darauf ist ein Männlein zu sehen, dass Tränen lacht und sich dabei vergnügt auf die Schenkel haut. „Ich soll Spanier sein? sagt der Text dazu. „Ist ja lächerlich!“  Ich zeige auf das T-Shirt und sage: „Dir ist jetzt schon klar, dass das überhaupt keinen Sinn ergibt, wenn du es trägst, oder?“ Das war ihr tatsächlich nicht wirklich klar und nachdem ich ihr erkläre, dass in ihrem T-Shirt ganz unzweifelhaft keine Spanierin steckt, sondern eine Deutsche, die dadurch auch nicht zur Katalanin wird, hatte sie es plötzlich eilig und entfreundet mich alsbald auf Facebook. Mit Leuten, die sich derart unkatalanischer Umtriebe befleißigen, kann sie natürlich keinen Umgang pflegen. Das sehe ich ein. Und so in einer Villa in Ratingen lebt es sich bestimmt angenehmer mit einem „freien Katalonien“, in dem die Bürger ihre Rentenansprüche und ihren freien Zugang zur EU verloren haben, als sagen wir mal in Barcelona. Auch das ist mir klar. Was mir nicht klar ist: Warum macht sich Karin zum Stellvertreter einer katalanischer Indignation an der sie de facto gar keinen Anteil hat?

Wieso ist Rachel Dolezal schwarz?

Rachel Dolezal war bis 2015 die Präsidentin der National Association for the Advancement of Colored People (NAACP) ihres Wohnbezirks, einer schwarzen Bürgerrechtsbewegung. Sie war auch Ombudsfrau der Polizei in Sachen Umgang mit Farbigen. Und sie war Lehrbeauftragte für afrikanische und afroamerikanische Studien an der Eastern Washington University.  In diesem Amt fiel sie mehrfach dadurch auf, dass sie Studenten, von denen sie fand, dass sie keinen so farbigen Eindruck machten, wie sie es für erforderlich hielt, der Vorlesung verwies, weil sie der Argumentation einer echten schwarzen Frau ohnedies nicht folgen könnten, weil sie nie ergründen könnten, was Diskriminierung wirklich bedeutet, weil sie eben einfach nicht schwarz waren.

Blöd ist: das haben sie mit Rachel Dolezal gemein. Ihre Eltern sind deutscher und tschechischer Abkunft und so weiß wie ein Toastbrot.

Grundsätzlich, da möchte ich jetzt wohl verstanden werden, ist gar nichts dagegen einzuwenden, wenn sich Experten zu einem Thema äußern, dass sie nur theoretisch kennen. Es gibt Themen, bei denen ich das sogar durchaus begrüßen würde, wie z.B. jedwede Form der Kriminologie oder bei Studien, die sich mit Missbrauch jedweder Art beschäftigen. Warum also hat Rachel Dolezal Tabletten geschluckt, um dunkler zu werden, sich eine Dauerwelle machen lassen, mit der sie aussieht wie Side Show Bob und warum hat sie Leute, die so waren wie sie aus ihrer Vorlesung geworfen? Warum hat sie einen Zustand hergestellt, dessen Opfer zu sein sie dann lautstark beklagt hat?

Aufgeflogen ist die Sache, als sie das Foto eines Schwarzen als das ihres Vaters auf Facebook eingestellt hat. Das war zu viel für ihren echten Vater. Er ging an die Öffentlichkeit. In einem sehr peinlichen Interview redete sich Rachel Dolezal raus. Ihre Erklärung ist, dass sie sich schon immer schwarz gefühlt hat. Sie beschrieb sich wörtlich als eine „transracial Caitlyn Jenner“, so etwas wie Transgender in Hautfarbe eben.

Sie beschrieb sich auch als Opfer physischer Gewalt durch ihre Eltern – was diese bestreiten. Als Opfer sexuellen Missbrauchs durch ihren Ehemann, der sie zum Dreh eines Sexvideos gezwungen habe – was nie aufgefunden werden konnte. Eigentlich eben als Opfer mal so ganz im allgemeinen, das sich einen triftigen Grund für sein Opfer-sein erst noch suchen muss.

Das ist derart abstoßend tatsächlichen Opfern gegenüber, die sich eben leider nicht aussuchen können, ob sie Opfer sein wollen, dass es mir den Atem verschlägt.

Inzwischen ist der Herzenskatalane eingetroffen

Ich biete ihm Tee an. Die erste Tasse nimmt er auch noch, denn da weiß er noch nicht, was ich für eine bin. Er findet das alles wahnsinnig aufregend, was da draußen passiert und freut sich, dass das bittere Unrecht, dass dem katalanischen Volk geschieht, nun endlich ein Ende hat. Ich frage freundlich nach, worin das bestünde. Er verweist auf die Unterdrückung der katalanischen Sprache. Ich verweise darauf, dass seit einigen Jahren Amtsschreiben überhaupt nur noch auf Catalan kommen. Genau genommen wird hier eher die spanische Sprache unterdrückt. Es ist ihm anzumerken, dass er dieses Argument als persönliche Beleidigung empfindet. Ich verweise auch darauf, dass der Schulunterricht hier auf Catalan stattfindet und Freunde von mir, die mit zwei schulpflichtigen Töchtern aus Madrid zugezogen sind, ihre Töchter hier auf teure Privatschulen schicken müssen, auf denen Spanisch gesprochen wird. Die meisten katalanischen Politiker machen das übrigens auch. Der Herzenskatalane mag mich nicht. Mich nicht und meine blöden Argumente nicht. Außerdem darf hier keiner wählen, sagt er. Ich erwähne, dass es in den Jahren, in denen ich hier wohne jedes zweite Jahr eine Wahl gegeben hat und mehrere ungestört abgelaufene inoffizielle Referenden. Das war nicht das, was er hören wollte und als ich ihn frage, ob er vielleicht eins der katalanischen Schreiben sehen möchte, verschränkt er die Arme vor dem Bauch und sagt, es sei vielleicht besser, wir würden nicht mehr darüber reden. Er sagt das, als sei er ein Opfer und ist von da an damit beschäftigt, an mir vorbei zu schauen und demonstrativ zu schweigen. Weitere Angebote von Tee lehnt er mit einem Kopfschütteln und einem Blick, der Schiffe versenken könnte, ab. Als ich ihn frage, ob er vielleicht ein Glas Wasser möchte, starrt er an mir vorbei als sei er auf einer Mission: „Ich weiß genau, was du hier abziehst, Puppe. Aber du und dein Wasser, ihr werdet mich nicht dazu bringen, die Partisanenlager im Hinterland zu verraten.“ Es gibt keine. Genauso wenig wie Unterdrückung, Diskriminierung oder Unterjochung von Katalanen. Genauso wenig wie Rachel Dolezal schwarz ist. Aber er sitz. Er starrt. Er lehnt ab. Ein Rebel without a cause.

Es gibt zwar keine Sache, aber er ist entschlossen, sie zu verteidigen.

Denn selbst, wenn es eine Sache gäbe, wäre es seine Sache nicht.

Aber offenbar ist es jetzt meine. Denn während der Herzenskatalane sein Herz wieder dahin zurück bringt, wo er warm und trocken in der Sicherheit eines wohl geordneten Sozialstaats lebt, bleibe ich zurück in der Stadt, die beflaggt ist, wie Berlin 1933. Wo ich Populismus aushalten muss, inhaltsfreie Debatten und die Konsequenzen, die dieser Unsinn mit sich bringt. Ich bleibe zurück und räume den Tisch ab für die Indignierten. Die Wassergläser. Die Teetassen. Das Gebäck. Die Blumen des Bösen.

 

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Frau Fricke wundert sich über Terror

Jetzt ist es also passiert. Ich hab gleich mal „Frau Fricke wundert sich, wer so alles Paris ist“ nachgelesen und war überrascht, wie wenig sich geändert hat. Äußerlich. Nur ich hab mich verändert. Ich bin wütend. So kenn ich mich gar nicht. 

Ich würde gerne sagen, dass mich das Attentat in Barcelona, der Stadt, in der ich wohne, völlig unbeeindruckt gelassen hat. Aber dann würde ich lügen. Es ist mehr so, dass alles ganz anders ist, als ich es mir vorgestellt hatte.

Wie immer, wenn etwas passiert, das eben eigentlich gar nichts mit einem selbst zu tun hat, dauert es eine Weile, bis man überhaupt was mitkriegt. Ich hatte plötzlich etliche Nachrichten auf dem Handy und die erste, die ich öffne heißt: SOFORT! und ist der Nachklapper der Bitte, ich solle mich doch bitte melden und sagen, dass es mich noch gibt. So also habe ich von dem Attentat erfahren. Ich war aber genau genommen immer noch nicht betroffener, als wäre jemand auf der Autobahn in Castrop-Rauxel falsch abgebogen. Und das ist hier der Punkt.

Jeden Tag geschehen um uns herum schreckliche Dinge. Während wir uns die Haare schneiden lassen, ungläubig auf die Waage starren oder einen Parkplatz suchen, stößt einem anderen Menschen – oft gar nicht so weit entfernt – Unsägliches zu. Menschen ertrinken, werden Opfer häuslicher Gewalt, sterben an unerwarteten Krankheiten. Und nie denken wir, dass das irgendetwas mit uns zu tun hätte. Nur bei so einem Attentat sind wir plötzlich selbst betroffen. Und das hat einen Grund:

Ein Attentat macht die Gewalt größer als den Täter. 

Man erlaubt einem Attentäter so zu tun, als sei er nur Stellvertreter für etwas, das größer ist als er. Und wir, wir glauben ihm das. Wir glauben, er sei das große Böse und er habe es auf das Gute im Allgemeinen abgesehen. Und wer ist das Gute im Allgemeinen? Na, wir natürlich. Und so glauben wir: Der meint uns. Tut er aber nicht.

Jedes Jahr sterben Menschen auf der Autobahn, weil jemand vorsätzlich in falscher Richtung unterwegs ist. Auch der will töten und zwar sich selbst. Und vorher, vorher will er noch so viel Aufmerksamkeit wie möglich. Wer einfach nur einen Stuhl umstößt und von der Decke baumelt, wer von der Brücke springt oder ausgeblutet aus seiner Wanne gezogen wird, macht keine Schlagzeilen. Der ist einfach nur ein überfordertes Würstchen, das es nicht gepackt hat. Sad. So ein Geisterfahrer aber, ja der ist eine Meldung wert. Grandioser Abgang. Aber auch nur im Lokalteil. Denn, sein wir ehrlich:

Keiner käme auf die Idee, die Eifelturmbeleuchtung abzuschalten. Keiner bastelt Schleifen, die man am Revers tragen soll und kein Hobbygraphiker bastelt ein Ereignislogo, das plötzlich alle Profilfotos bei Facebook ersetzt. Nur bei Terror, bei Terror ist das anders. Warum eigentlich? Bei genauem Hinsehen entdecken wir nämlich – nichts.

Was macht einen Terroristen zum Terroristen?

Was mir in der Berichterstattung immer wieder auffällt, sind die eklatanten Ähnlichkeiten der Protagonisten. Alle Attentäter der jüngeren Vergangenheit waren Sozialversager. Leute, deren Träume größer waren, als ihr Vermögen, sie zu verwirklichen. Ich will das nicht werten. Es ist aber eine Beobachtung wert. Fast alle waren vorbestraft. Drogendelikte waren dabei, Häusliche Gewalt, Sexualdelikte, Raub, Diebstahl. Der Attentäter von Nizza durfte sich seiner Familie nicht mehr nähern, weil er zumindest als deren Gefährder angesehen wurde. Fast ebenso bemerkenswert wie ihre längeren kriminellen Karrieren sind ihre verblüffend kurzen religiösen Episoden. Keiner der bisher bekannt gewordenen Attentäter konnte auf ein langes frommes Leben als Moslem zurückblicken. In fast allen Fällen berichtet das soziale Umfeld davon, dass da, wo plötzlich die Sure regierte, gestern noch der Swag hing. Und „Kontakt zu ISIS“? Wer Bingewatching von reißerischen youtube-Videos für einen Kontakt zu ISIS hält, der glaubt auch, dass man durch das Hören von Death Metal den direkten Draht zu Satan hat.

Nein, es ist viel einfacher: Diesen islamischen Terror und diese klandestinen Truppen, die einem geheimnisvollen Dr. No aus dem Morgenland folgen, die gibt es gar nicht. Das, was wir für Terror halten, sieht nicht nur so aus, als stünde keine ausgefeilte Strategie dahinter. Das ist tatsächlich so.

Jeder frustrierte Sozialversager mit Führerschein kann sich einen Minivan mieten. 

Und davon gibt es eine ganze Menge da draußen. Die folgen keinem sinistren Plan, die haben kein höheres Ziel. Denen steht der Frust nur einfach bis zu den Augenbrauen und die haben die Hoffnung aufgegeben, jemals jemand zu werden, für den man sich nicht schämen müsste. Einmal was Bedeutendes machen, etwas, über das die Leute reden. Einmal bewundert werden. Das ist nicht so einfach, wenn man nicht singen kann, oder Fußball spielen. Nicht so einfach in einer Welt, in der man nicht einmal in die zweite Bewerbungsrunde kommt.

Und so kommt man dann auf die Idee, sich einen Minivan zu mieten und in eine Menschenmasse zu fahren. Jeder Idiot kann das. Man kann auch ohne große Vorkenntnisse in einem gesteckt vollen Konzertsaal niedermähen, was man vor die Flinte kriegt. Oder sich selbst – Gipfel der Dummheit – in die Luft zu sprengen. Jeder andere kleine Idiot, jeder andere Kleinkriminelle, jeder andere grasvernebelte Hilfs-Checker würde nichts hinterlassen, als einen Fleck. Aber sowie man sich einen Minivan mietet und so tut, als täte man, was man tut für einen höheren Zweck, kennen alle deinen Namen.

Das muss aufhören!

Es wird Zeit, dass wir über publicitygeile Kleinkriminelle so berichten, wie es den Tatsachen entspricht. Dass wir sie als die illusorischen Vollhonks darstellen, die sie sind. Dass wir uns nicht schämen zu sagen, dass sie dumm sind wie ein Stück Brot, dass sie ihre letzten Hirnzellen verkifft haben und dass sie Schande über sich bringen, Häme, Gelächter. Dass keiner sie fürchtet. Und dass sie vergessen sein werden, wenn das nächste Fußballspiel Schlagzeilen macht.

Hören wir auf, so zu tun, als hätten sie Bedeutung. Denn erst dann wird die nächste Riege perspektivloser Piffel keinen Spaß mehr an dem Gedanken finden, wie alle vor dem Fernseher sitzen und denken: „Oh! Was der? Das hätten wir dem ja gar nicht zugetraut.“

Hören wir auf, zu fragen, wer dahinter steckt. Nichts steckt dahinter. Gar nichts. Nur Frust und Dummheit. Der „Islamische Staat“ hat – wie auch immer authentifiziert – das Attentat bereits für sich reklamiert und den „beiden Helden“, die es durchgeführt haben, ihre Anerkennung ausgesprochen. Das ist blöd, wenn tatsächlich vier Leute im Wagen gesessen haben. Dumm gelaufen. Immer hübsch die Nachrichten abwarten, bis man etwas für sich reklamiert, das in Wirklichkeit eine Handvoll Ganoven aus der katalanischen Provinz ausbaldowert haben. Hören wir auf, Bedeutung zu suchen, wo keine ist.

Vier Idioten haben vierzehn Menschen getötet.

Ich bin froh, dass ich keiner von ihnen bin.

Mehr gibt’s nicht zu sagen.