Frau Fricke wundert sich, ob sie da ist

Ich hatte einen Traum. In all den Jahren, in denen ich mir als kleines Kindergartenkind ansehen musste, wie „Die Großen“ Krippenspiele inszenierten, träumte ich davon, endlich auch mitspielen zu dürfen. Ein Schaf vielleicht. Ich wartete geduldig darauf, endlich qualifiziert genug zu sein, mitspielen zu können. Mein halbes Leben lang. Dann wurde ich endlich sechs. Genau in dem Jahr, in dem die Entscheidung fiel, dass „Die Kleinen“ putziger anzusehen wären. War das ein Omen?

Ich kann mir genau vorstellen, wie sich die Kandidatinnen gefühlt haben, die Andrea Nahles gestern von den sicheren Listenplätzen gestrichen hat, um dort Newcomer zu implementieren. Dabei ist auch eine Kandidatin über die Klinge gesprungen, die seit 1994 im Europaparlament sitzt, hoch geschätzt ist und all die Verbindungen haben dürfte, von denen Sechsundzwanzigjährige noch nicht recht wissen, wie man sie aufbaut. Der Teil, in dem es keinen Spaß, Recht zu behalten, ist dass die so von Andrea Nahles bevorzugte ausgerechnet die stellvertretende JUSO-Vorsitzende ist. Auf dem Platz begann auch ihre eigene Karriere. Es stimmt also, dass Führungskräfte immer Kopien ihrer selbst fördern. Ich sage das schon seit Jahren als Begründung dafür, warum wir die Frauenquote brauchen. Hmmmmm…

Beklagenswerter Weise zeigt sich mit dieser Besetzungrochade ein Trend, den man durchaus verallgemeinern kann. Wir, die Geburtenstarken Jahrgänge, die von denen es am allermeisten gibt, die daher eigentlich am allermeisten Lärm machen sollten, wir sind die übersprungene Generation. Die, die keiner braucht und die stillhalten, weil sie sich dafür schämen. In einem Sandwich von lautstarken Anspruchstellern sind wir die träge Butter in der Mitte, die zwar alles zusammen-, sich aber brav bedeckt hält.

Wir sind eingeklemmt zwischen den 68ern, denen Randale einfach Spaß macht und die von alten Gewohnheiten nicht lassen können und der Nachfolgegeneration, die wir an unserem Busen genährt haben und die uns leider glaubt, dass sie etwas ganz Besonderes und Einzigartiges ist und die Welt sich ihr unterwerfen wird. Wir selbst tun das ja schon. Gelernt ist gelernt. Und beide Generationen, die vor uns und die nach uns, profitieren davon, dass wir tun, was wir am besten tun: Klappe halten und dienen.

Interessant ist dabei auch ein Phänomen, das ich nicht zum ersten Mal beobachte: Wenn Führungspositionen schon mit Frauen besetzt werden müssen, dann sollen diese Frauen bitte wenigstens nach was aussehen. Also jung sein, schick und keck. Sowas, das man sich früher auch gern ins Vorzimmer gesetzt hätte. Etwas, das sich auf Fotos gut macht.
Die alten Herren der SPD, einige von ihnen schon in den 70ern, haben ihre Plätze behalten. Sonst wäre aber auch was los gewesen! Die kommen ja auch aus der Generation der Motzer und Querschießer.  In der Summe halte ich schon mal fest:

Wir sind viele – und wir sind nichts.

Aus einer berufsbedingten Deformation heraus habe ich mich natürlich sofort gefragt: Warum macht Frau Nahles das? Warum macht die SPD da mit? Dafür muss es ja irgendeinen Grund geben. Gehts da um massenhaften Wählerzulauf?

Gehts um Frauen?
Schauen wir uns das doch mal an: Die SPD hat traditionell vergleichsweise viele weibliche Wähler. Trotzdem kann man da ja noch was drauflegen, indem man mehr Listenplätze mit Frauen besetzt. Das allerdings ist nicht geschehen. Die jungen Frauen, die hier eingesetzt werden, haben Frauen jenseits der Wechseljahre verdrängt.
Das kann’s also schon mal nicht sein.

Gehts um Millenials?
Vielleicht schauen wir uns einfach mal die Alterszielgruppe an. Über die, die Millenials, hört man ja ne Menge, weil sie „Digital Natives“ sind und damit über eine geheime Superkraft verfügen, von denen vorangehende Generationen nicht einmal wissen, was das ist. Weil Dinge erst echt sind, wenn sie digital sind, erfinden die Digital Natives nämlich gerade alles total neu. Nennen wir sie die Disrupter.

Schicker Name jedenfalls. Schicker als der Name unserer Generation: Die Geburtenstarken Jahrgänge. Der klingt zwar nicht so toll, ist aber durchaus zutreffend gewählt. No shit! Von uns gibt es viele. Sehr viele. Doppelt so viele wie Millenials. Ist es da klug, denen auf den Abtreter zu pinkeln,  um damit einer Generation zu imponieren, von denen es nur halb so viele gibt? Wenn die Brüskierten alle gehen, rücken nur halb so viele hofierte nach. Aber was, wenn es gar keine Konsequenzen zu befürchten gibt? Unsere Generation ist ja nicht gerade für ihre Neigung bekannt, Forderungen zu stellen.

Wir sind die Schweiger. Die Wegducker. Die Es-allen-recht-Macher.

Vermutlich hatten wir dazu auch nie eine wirkliche Alternative. Denn vor uns in der Pipeline stehen die, die unser Leben immer lautstark begleitet haben: Die 68er. Das sind – das, um Missverständnisse zu vermeiden – nicht etwa die um 1968 geborenen, sondern im Gegenteil die, die um 1968 geboren haben oder hätten gebären können. Also die Nachkriegsgeneration der heute irgendwas um die Siebzigjährigen.

Wer diese Generation mal aus der Nähe betrachten will, findet sie im allgemeinen überall dort, wo man sich empört. Muss auch nicht umbedingt einen Sinn ergeben. Hauptsache motzen und Hauptsache laut. Diese Generation, die wie keine andere auf Händen getragen wurde, die rückzahlungsfreies Vollbafög kannte, die einen De-facto- Renteneintritt vor Erreichen des 60 Lebensjahr hatte, der auch mit einem Hauptschulabschluss noch Karrieren offen standen, die ein Häuschen im Grünen und Campingurlaub in Italien ermöglichten, diese Generation also, findet eigentlich immer was, das einen lautstarken Protest wert ist. Macht ja auch Spaß. Vor allem aber gehen sie immer davon aus, das was sie betrifft, auch alle anderen interessieren müsste. Eine Generation gewordene Narzisstische Persönlichkeitsstörung so zu sagen. Aber – das darf hier nicht verschwiegen werden – der Erfolg gibt ihnen Recht. Siehe oben.

Und dann kamen wir.

Leider gleichzeitig mit der Sexuellen Revolution. Mit dem Revolution überhaupt. Kaum waren wir da, stand die Welt Kopf. Tolle Sachen passierten. Parties! Drogen! Kommunen! Miniröcke! Lange Haare! Und zweimal mit derselben zu pennen, war bei allgemeiner Missachtung verboten. Die ganz, ganz große individuelle Freiheit stand ganz, ganz hoch im Kurs. Nutzlos zu sein und trotzdem bedeutend war richtig weit vorn. Und da stand man nun da mit der Familie. Und mit Verpflichtungen. Total uncool – das damals noch doof hieß. Doof gelaufen. Da konnte man nur noch Sofortmaßnahmen am Unfallort vornehmen. Eine ganze Gesellschaft einigte sich darauf, dass sich Kinder irgendwie beiordnen müssten.  „Warst du auch brav?“ wurden wir gefragt, wenn man uns irgendwo abholte, wo wir vorübergehend geparkt waren, was sich leicht übersetzen ließ mit: „Warst du auch hübsch unsichtbar?“ Wir waren die, die man bestenfalls sehen, aber nicht hören sollte. Wir waren die, die Mutti und Vati am Wochenende nicht wecken durften. Wir waren die, die nach Mitternacht die Gläser zwischen den knutschenden Party-Gästen einsammelten und uns freuten, wenn mal kurz jemand aufschaute und sagte: „Guck mal wie niedlich“ und schnell noch austrank, bevor er uns sein Glas in die Hand drückte. Von uns wurde erwartet, dass wir keine Mühe machten  und nicht störten.

Wer Glück hatte, der erlebte diese Indifferenz als Antiautoritäre Erziehung, die gern so interpretiert wurde, dass Kinder sich schon irgendwie selbst groß kriegen, wenn man nur nicht eingriff. Du machst das schon. Ich bin dann mal weg. Auf einer Demo, auf einer Party. Auf irgendwas, das wichtiger ist als du – und mir klar mehr Ansehen bringt.

Die Pop Stars der politischen 68er Gudrun Ensslin, Andreas Baader und Ulrike Meinhof, beschlossen mit bekannter Konsequenz, dass sie sich leider aufgrund anderweitiger Engagements gar nicht mehr um ihre Kinder kümmern konnten. Gibt eben Wichtigeres.

Immerhin hat uns das ausreichend auf die Zukunft vorbereitet. 

Ausgerechnet, als wir auf den Arbeitsmarkt kamen, gab es nämlich eine globale Krise. Und infolge dessen keine Arbeitsstellen, keine Ausbildungsstellen, Bafög wurde gestrichen. Wir waren viele, die Konkurrenz groß und die Arbeitsplätze wenige – und von der Vorgängergeneration besetzt, die an ihre jüngeren Kollegen dieselben Ansprüche hatte, wie an ihre Kinder: Mach dich nützlich und halt die Klappe.
Und das haben wir gemacht.

Wir waren flexibel und bereit, für wenig Geld sehr, sehr viel zu arbeiten. Wir mussten ja unser Bafög zurückzahlen. Und wenn wir uns tatsächlich trotz allem für Kinder entschieden haben, mussten wir die alleine groß kriegen, denn Oma und Opa sind lieber nach Lanzarote geflogen. Man lebt ja nur einmal. Wir lebten inzwischen vorübergehend mit noch mehr Konkurrenz,  denn nach Maueröffnung wurden die Arbeitsplätze noch rarer, die Mieten stiegen mit der Nachfrage – und wir hielten die Klappe und machten, was wir gelernt hatten: Wir sortierten uns bei und funktionierten. Irgendwann, dachten wir, irgendwann kommt auch unsere Stunde. Denn das sahen wir ja an der Generation vor uns: Irgendwann ist mal alt genug, um einen Verdienst zu bekommen, der auch tatsächlich zum Leben reicht.

Zunächst kamen aber mal unsere Kinder. Und an denen wollten wir alles besser machen. Obwohl uns unsere Mütter aus Raviolidosen und von Tütensuppen ernährten, lernten wir Vollwertküche und kauften uns Getreidemühlen, um die lieben Kleinen optimal ernähren zu können. Weil sich für uns kein Mensch interessiert hatte, haben wir Leon und Lea zehnmal am Tag gefragt, was sie jetzt am liebsten machen würden und ihre Kindergeburtstage wie Filmsets ausgestattet. Wir haben getan, was wir am besten konnten, wir haben unser Leben untergeordnet. Wir hingen da eingeklemmt zwischen einer fordernden Elterngeneration und einer Nachfolgegeneration, die wir zu Fordernden gemacht hatten und da hängen wir nun. Und wir halten die Klappe.

Wir halten die Klappe, selbst, wenn es uns an den Kragen geht, an die Zukunft, an die Zeit, wenn wir keine Zeit mehr haben für aufwendige Kurskorrekturen.

Wir halten die Klappe, wenn wir in die Rentenkasse einzahlen, obwohl wir wissen, dass das System schon rein rechnerisch nicht funktionieren kann. Dass wir bitterer Armut entgegen sehen und einer Generation, die für uns nicht nur nicht im selben Maß zahlen will, sondern das auch gar nicht kann.

Wir halten die Klappe, wenn wir als über 50jährige zwar noch 20 Jahre Arbeitszeit von uns haben, aber trotzdem keine Chance, einen Job zu bekommen.

Wir halten die Klappe, wenn es die Geldpolitik den Wenigerverdienenden, denen bei denen es nicht für ein breit angelegtes Aktienportfolio reicht, nicht mehr ermöglicht, selbst für ihr Alter vorzusorgen. Und auch, wenn die Immobilienpreise aufgrund einer laxen Geldwäschekontrolle ins Unbezahlbare steigen.

Wir sind einfach still und fügen uns. 

Wir zucken die Achseln und sagen leise „Da kann man wohl nix machen.“ Und wir denken das wirklich, weil schon die Anderen so laut sind. Die, die über uns sind und ihre Rente verteidigen und die, die unter uns sind und von uns ein anderes Leben versprochen bekommen haben, das sie jetzt lautstark einfordern.

Vielleicht hatte Nahles ja auch einfach nur gehofft, dass Millenial-Kevin endlich mal die Klappe hält, wenn sie ihm zwei Opfer bringt.  Das wird er natürlich nicht tun, denn die Klappe aufzureißen, das ist sein USP. Seiner und der seiner Generation. Und Recht hat er. Es ist seine Sache, seine Sache zu vertreten. Es wäre unsere, unsere Sache nach vorne zu bringen. Wir tun es nur einfach nicht.

Das ist der Grund, warum wir übergangen werden. Weil wir es mit uns machen lassen. Weil wir nicht laut werden. Weil wir glauben, wir müssten alles erdulden. Und das werden wir dann wohl auch.

Wir werden still die Scherben aufsammeln, die die 68er hinterlassen haben und damit der nachfolgenden Generation den Weg pflastern, die schon ungeduldig dasteht und fragt, warum das so lange dauert. Und wenn wir abtreten, dann werden wir kein Vermächtnis haben. Wir waren die, die den 68ern nicht im Weg standen und die Millenials bei ihren Zielen unterstützt haben.

Wir selbst, wir sind gar nicht da.

 

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Frau Fricke wundert sich, ob sie was Einzigartiges verpasst hat

Warum sind alte Menschen so unflexibel? Warum sehen sie nicht die neue Welt, die den Jungen schon klar am Horizont erscheint in all ihrer Macht und Schönheit? Warum sind die so doof? Vielleicht, weil sie nicht alles, was sie zum ersten Mal sehen für neu und aufregend halten. Vielleicht auch, weil sie durch die neuen Schläuche den alten Wein erkennen.

Mit Kaffee hat’s angefangen. Ich stehe vor einem bärtigen Mann, an dem jemand eine schwere Segeltuchschürze mit Lederriemen vertäut hat, als müsse sie einen Sturm überstehen. Eigentlich will ich nur einen Kaffee. Der Mann guckt mich erwartungsvoll an, als käme da noch was. Es kommt nichts. Er zieht die Augenbrauen hoch und steufzt. „So kann ich nicht arbeiten“ soll dieses Seufzen heißen. „Ich brauche hier echt nen Briefing.“ Ich bin verunsichert. Haben wir hier ein sprachliches Problem?

„Äh, Kaffee“ sag ich. „Weißtschon. Heißes Wasser, das durch gemahlene Kaffeebohnen läuft.“ Er sieht durch mich durch. „Lecker.“ sag ich also tapfer und hoffe, dass er damit irgendwas anfangen kann. Und tatsächlich wird er plötzlich munter.

„Oh“, sagt er, „Ja, das haben wir.“ Ich bin nicht überrascht. „Ganz neu. Erst seit ein paar Tagen.“ Jetzt bin ich’s schon. Er dreht sich um und verschwindet kurz. Dann kommt er mit etwas wieder, von dem er sicher ist, dass ich es noch nie gesehen habe. Er hält es triumphierend in die Höhe und ich sehe kurz, was er jetzt sieht: Ein verrücktes Instrument. Ein Ding, das man eher in einem Labor vermuten würde. Den ganz letzten heißen Scheiß.

Der Mann schmeißt ein Gerät an, das tatsächlich aussieht, wie der Bunsenbrenner aus meinem Chemieunterricht und darüber stellt er ein ulkiges Gestell und darauf eine Glasblase mit Wasser. Wir sind definitiv im Chemieunterricht. Während das Wasser seinem Siedepunkt entgegeneilt, greift er in eine Schublade und holt eine winzige Tüte aus dickem braunen Papier heraus. Damit kleidet er das Instrument aus, das er aus dem Hinterzimmer geholt hatte, mahlt Kaffee, füllt das Kaffeemehl ein und hält mir einen kurzen Vortrag über Kaffeearmomen und die ultimative Methode, sie der Bohne zu entreißen. Nämlich diese hier. Er gießt das inzwischen blubbernde Wasser auf. Ein betörender Duft steigt auf.

„Ach“ sag ich, „Das riecht jetzt so nach Sonntag bei Opa. Der hat das auch immer so gemacht.“

Dem Bärtigen fällt fast die Glasblase aus dem Schutzhandschuh. „Das ist aber was ganz Neues.“ sagt er. „Nee“, sag ich, „Das ist Filterkaffee. Da wo ich herkomme, hat man Kaffee früher immer so gemacht. Also jetzt bevor Cappuccino in Mode kam. Und Espressomaschinen und sowas.“ Der Bärtige ist entsetzt. Ich kann nicht sehen, aber erahnen, wie seine Mundwinkel hinter seinem Kinnpelz zusammenfallen. Hinter seinen hohlen Augen sehe ich sein Leben rückwärts vorbeilaufen. Alles, wofür er gelebt hat, verschwindet in diesem Moment durch einen Kaffeefilter, den ich als „poplig“ bezeichnet hätte – bevor ich die Rechnung gesehen hab.

Vielleicht hat er sich abends in einem Akt von Autoaggression einen Nescafe gemacht und leise hinein geweint. Vielleicht hat er aber auch seinem Kummer über die Ignoranz seiner Umwelt in 140 Zeichen Ausdruck verliehen.

Der Häschtäck „diesejungenleute“ würde sich da anbieten.

Da treffen sich junge Leute gewissermaßen um gemeinsam zu beklagen, was noch jede Generation junger Leute vor ihnen beklagt hat: Dass alle ganz gemein sind zu den jungen Leuten. Keiner nimmt sie ernst. Keiner hört ihnen zu. Keiner sieht, dass sie total toll und voll innovativ sind. Und – vielleicht wenigstens ein kleines bisschen neu:

Keiner sieht wir unglaublich einzigartig sie sind, diesejungenleute. Sie selbst und alles, was sie tun. 

Das übrigens, scheint besonders schwer auszuhalten: dass alles schon mal da war. Selbst diese Schwierigkeiten, seinen Platz in der Welt der Etablierten zu finden, ist nicht neu. Das also war der Grund, warum damals der „Fänger im Roggen“ als Klassensatz bestellt wurde!

Nie ist was neu und einzigartig genug. Jedes Mal, wenn diesejungenleute mit glänzenden Augen irgendetwas Neues in die Gesellschaft tragen, gähnen nur alle träge und sagen: „Kennwaschon.“ Denn merke: Nur weil etwas einen Häschtäck hat, ist es noch nicht revolutionär. Und was die urls angeht, die allein machen auch noch keine Innovation. Auch im letzten Jahrtausend gab es schon Kasinos, Mitwohnzentralen, Mitfahrzentralen und Versandhäuser. Es gab Lexika, Wörterbücher, Kinos, Pornos, Banken. Manchmal ist diese Erkenntnis für diesejungenleute ein echter Schock. Leute haben sich unterhalten, sie haben einander geschrieben, sie haben zusammen etwas unternommen und manchmal haben sie zusammen gesessen und sich etwas ausgedacht, das zumindest ihnen neu vorkam. Manchmal hatten sie sogar Erfolg damit. Und es gab Kaffee. Alles nichts Neues.

Es gab auch schon Monopolisten, Kopisten, Firmenzusammenbrüche und Disruption. Sorry. 

Vielleicht sind die Alten da etwas gelassener, weil sie genauso waren, weil auch sie alles superrevolutionär und absolut neu fanden, was sie zum ersten Mal verstanden hatten. Weil auch sie ihre Umgebung damit genervt haben. Weil auch sie ihre Begrenzung nicht erkannt haben. Sie haben die Entwicklungen von Dingen gesehen, die sie für unfehlbar hielten, sie haben gesehen, wie sie im langen Marsch durch die Jahrzehnte abschliffen wurden und die immer selben archaischen Machtstrukturen und Urinstinkte frei legten. Am Ende ging es immer nur um Macht und Geld und den eigenen Vorteil. Und auch das ist weder neu noch einzigartig. Kain und Abel, Jakob und Esau, Josef und seine Brüder könnten ein Hinweis darauf sein.

Blöd gelaufen für die Prinzen und Prinessinnen, die mit „Ganz besonders und einzigartig“ als Motto im Schild aufgewachsen sind. Ich selbst bin ja ein Baby Boomer. Das war ja noch die Schuldigung-dass-ich-da-bin-Generation. Die Hochzeitsgrundkinder, die gelernt haben, dass sie sich jetzt bitte wenigstens im Hintergrund halten möchten, wenn sie ihre Eltern schon mit ihrer Existenz belästigen und sie an der gerade in Mode gekommenen Freien Liebe hindern. Das sind die, von denen es immer zu viele gab. Zu große Klassen, zu wenige Ausbildungsplätze, zu wenige Wohnungen. Das sind die, deren erste Pflicht es war, mit dem Hintergrund zu verschmelzen und nicht weiter aufzufallen. Das wollte unsere Generation ihren Kindern ersparen. Und so entstand die Generation Du-sollst-wissen-das-du-etwas-ganz-Besonderes-bist. Wir haben’s gut gemeint, aber nicht gut gemacht. Denn was uns nicht klar war: Das, wovor wir unsere Kinder unter allen Umständen bewahren wollten, haben wir ihnen so als werkseitig eingebaute Sollbruchstelle mitgeliefert: Das totale Versagen. Hinter der Versicherung, besonders zu sein, lauert auch der Anspruch, es sein zu müssen.

Rein mathematisch kann aber nun mal nicht jeder einzigartig und überragend sein.

Und so bleibt diesenjungenleuten eigentlich nichts weiter übrig, als alles, was sie gerade neu gelernt, neu verstanden oder sich neu angeeignet haben, als einzigartige Erkenntnis und total neue Entwicklung umzudeuten. Wenn eine echte Kulturrevolution ausbleibt, (Sorry, Leute auch die gab’s schon), dann verbiegt man sich eben in Kognitiver Dissonanz, so lange, bis man etwas dahin umdeuten kann, dass es wie ein Vorbote eines leuchtenden neuen Zeitalters aussieht. Verzweifelte Gründer und ihre mittellosen Ausbeuterbuden werden schnell zu Startups umlackiert und holen sich damit einen „Gut gemacht“ und eine Million Venture Capital von der Generation, die ihnen verschweigt, dass sie das eigentlich nur aus nostalgischen Gründen macht.

Es war blöd, diesejungenleute mit der Hypothek zu belasten, etwas Besonderes sein zu müssen. Es ist auch blöd, ihnen jetzt vorzumachen, dass nur sie allein die Welt verstehen. Denn wir haben hier eine Aufgabe, die wir nur im Teamwork bewältigen können. Die Etablierten haben die Erfahrung – ja und manchmal auch die Angst –  die vor Kurzsichtigkeit und übereilten Entschlüssen bewahrt und die Jungen haben den Mut – ja und manchmal auch die Ignoranz – Dinge vorzuschlagen, die die Alten nicht zu denken gewagt hätten. Jeder für sich geht unter. Die einen aus Bewegungslosigkeit. Die anderen mit blindem Aktivismus. Aber zusammen wären wir großartig.

Das setzt allerdings Respekt voraus. Und Demut. Auf beiden Seiten.

Und an genau diesem Respekt lassen es die Alten fehlen, wenn sie nicht bereit sind, sich auf einen Dialog mit diesenjungenleuten einzulassen, sie in Frage zu stellen und ihnen zu erlauben fehlbar zu sein. Das setzt aber voraus, dass man sich die Mühe macht, Thesen zu hinterfragen und sich auch selbst unbequeme Fragen gefallen lässt, anstatt aus Bequemlichkeit, alles zur interessanten einzigartigen ganz und gar neuen Deutungsvariante zu erheben.

Als ich einer dieser jungen Leute war, hatte ich wundervolle Mentoren. Einer davon war Herr Diekmann, ein unwahrscheinlich kluger Handwerker, der es zu einem ausgesprochen florierenden Unternehmen gebracht hatte, das er von seiner neu bezogenen Villa im Nobelviertel der Stadt betrieb. Ich gab seiner Tochter Englisch-Nachhilfe und belehrte ihn beim Mittagessen, zu dem ich jedes Mal eingeladen wurde, dass Herr Diekmann für mich ein Ausbeuter war. Herr Diekmann nickte nicht anerkennend und fand, dass ich da aber mal auf eine ganz wahnsinnig unique Idee gekommen wäre, er erklärte mir detailliert seine Sicht – und er stellte Fragen. Kurz: Herr Diekmann nahm mich ernst. Und das hieß auch, dass er mich nicht mit Blödsinn davon kommen lies. Dafür kann ich ihm gar nicht genug danken. (Vielleicht sollte ich das tatsächlich mal persönlich tun.)

Ich hab viel von Herrn Diekmann gelernt. Und er vielleicht auch ein bisschen von mir. Ich weiß es nicht. Ist auch egal. Wichtig ist, dass Herr Diekmann nicht von mir erwartet hat, zu verstehen, dass ich nicht alles verstehe. Er hat auch nicht von mir erwartet einzigartig zu sein und die Welt zu revolutionieren. Er hat einfach nur erwartet, dass ich ihm denselben Respekt entgegenbringe, den er mir entgegen zu bringen bereit war. Und ein Teil dieses Respekts war, dass er mir nicht vorgemacht hat, ich wäre mehr als ich war. Ein Teil dieses Respekts war auch, dass ich wusste, dass er mich trotzdem schätzt. Einfach dafür, dass ich ich war. Wenn ich irgendwas von Herr Diekmann gelernt habe, dann, dass ich gar nicht Besonders sein muss, um wichtig zu sein. Kein Gründer, kein Influencer, keiner, der den Filterkaffee neu erfunden hat. Einfach nur ich.

Vielleicht war das meine Kulturrevolution.