Frau Fricke wundert sich, wer die Toten zählt

1.958 Tote. So viele Selbstmorde hat es im letzten Jahr in der Altersklasse der 50- bis 60jährigen gegeben. Corona könnte hier am Ende eine tiefere Schneise schlagen als es seine Infekte tun. Durch die sind in Deutschland bis heute etwa 90 Menschen gestorben. 

Eigentlich war es ein Zufall, dass ich auf diese Zahlen gestoßen bin. Und erst als sie dalagen, hab ich gemerkt wie wenig ich auf sie vorbereitet war. Wie ich trocken runtergeschluckt habe, wie ich gedacht habe: Ay Chihuahua, wir lösen gerade einen Tsunami aus, um eine Sturmflut zu stoppen.

1.026. So viele Suizide gab es letztes Jahr in der gefährdetsten Altersgruppe zwischen 50 und 55. Die einzige, die es auf vierstellige Fallzahlen bringt. Dicht dahinter – numerisch wie real – ist die zweitgrößte Gruppe der 55 bis 60jährigen mit 932 Suiziden. Gerahmt von 45-50- und 60-65jährigen, die beide so um die 750 Tote durch eigene Hand zu beklagen haben.

In der Literatur, im Film, in unserer Vorstellung ist Selbstmord irgendwie schöner.
Junge Leute, verstört von Hormonen, überfordert vom nagelneuen Erwachsensein, ohne ausreichende Problemlösungsroutine, stürzen sich in einen ebenso sinnlosen wie ansehnlichen Tod.

Falsch. Oder jedenfalls nicht richtig.
In der Altersgruppe der 15- und 20jährigen sind die Zahlen mit 184 knapp dreistellig. Danach oszillieren sie zwischen 300 bis 400. Und dann, nach dem 45 Lebensjahr, verdoppeln sie sich sprunghaft.Was passiert da?

Ich kann nur Vermutungen anstellen. Und nach denen ist es so:

Selbstmord, das sind nicht die Leiden des jungen Werther.
Das sind die Leiden des Entwertens Älterer. 

Bedenkt man, die steigende Lebenserwartung – und das steigende Renteneintrittsalter, dann fühlen sich erstaunlich viele Menschen bereits etwa auf der Hälfte ihres zu erwartenden Erwerbs- und phyischen Lebens am Ende angelangt.
Wie kommen die darauf?

Weil es so ist.

Je älter wir werden, desto mehr schöpft man uns die Lebensgrundlage ab.
Ab 45 wird es deutlich schwerer, einen Arbeitsplatz zu finden. Ab 50 gilt man als schwer, ab 55 als unvermittelbar. Das hat nichts mit Leistungsfähigkeit zu tun, sondern mit der Verengung des Korridors an Möglichkeiten.
Die Altersobergrenze für Verbeamtung liegt zwischen 35 und 40 Jahren.
Konzerne bemühen sich Mitarbeiter, die älter als 55 sind in Vorruhestandsregelungen abzudrängen. Und nicht einmal auswandern oder auf einer Ölbohrplattform arbeiten kann man jenseits der 50.

Das Leben als Fülle von Möglichkeiten ist vorbei.

Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr. Wer keine Firma hat, wird ohne bleiben.
Denn all die Stipendien, die Start- und Aufbauhilfen, die gibt es nur für junge Menschen.
Wer zwischen 55 und 60 seine Existenz verliert, dem gibt man nicht mehr die Chancen, die man denen gibt, bei denen die Zeit noch für eine zweite Runde reicht, sollten sie scheitern. Aus Sicht eines Kreditgebers kann man das verstehen.

Was macht man also, wenn man so zwischen 45 und 65
plötzlich ohne Existenz dasteht?

Wenn man die Große Quarantäne nicht bald unter mehr als nur einem Aspekt betrachtet, könnten wir das bald massenhaft beobachten, fürchte ich.
Denn sollte es infolge eines andauernden Lockdowns zu Firmenschließungen und Massenentlassungen kommen, wird diese Gruppe die am meisten betroffene sein. Und das nicht nur, weil sie die numerisch größte ist und in ihr die meisten Unternehmer und Arbeitgeber zu finden sind.

Wer 30 ist und gerade ein Café aufgemacht hat, das er gleich wieder zumachen kann, der ist traumatisiert. Aber der steht auf, der schüttelt sich und versucht es noch mal – mit den ihm zur Verfügung stehenden Aufbauhilfen.

Wer 40 ist, der weiß wenigstens schon mal, wie es geht. Der hat inzwischen alles, was er braucht: Erfahrung, Zeit und Kreditwürdigkeit.

Was aber macht man jenseits der 50, wenn das Unternehmen, das man ein Leben lang aufgebaut hat, nicht mehr da ist? Wenn man alles verloren hat? Wenn das Ersparte für die Laufenden Kosten, für Gehälter und Krankenkassenbeiträge draufgegangen ist?

Was, wenn man keine Arbeit mehr findet, in einem Arbeitsmarkt, der von Untoten wie einem selbst überflutet wird?

Was dann?

Rund 3.500 Menschen im Alter von 45 bis 60 haben diese Frage im letzten Jahr final beantwortet.

Und das war vor der Quarantäne. Als es noch einen Wirtschaftsboom gab. Fachkräftemangel. Einkommenserhöhungen. Vollbeschäftigung für die Begünstigten.
Friedenszeiten.

3.500 Menschen. Das sind mehr als bis heute in China am Coronavirus gestorben sind.

Opfern wir also die 45-65jährigen, um die 70-90jährigen zu retten?

Das müssen wir nicht. Es gäbe eine Alternative und für die ist es nicht zu spät.
Noch hat der große Shutdown ja erst angefangen und zwei Wochen kann man kompensieren. Selbst vier Wochen kriegt man noch irgendwie hin, wenn man auf Hilfen hoffen darf und wenn das Rad nicht all zu lange braucht, um wieder Schwung aufzunehmen. Fast jeder Unternehmer kennt Verdienstausfälle und musste damit schon klarkommen. Das ist nicht schön, aber meistens machbar. Doch jeder Tag zählt.

Das Virus gibt uns eine Chance, so groß wie ein Scheunentor

Wir wissen, dass die allermeisten infizierten Menschen eher leichte Verläufe haben.
Im Durchschnitt je jünger desto leichter.

Das heißt, all die produktiven Menschen zwischen 20 und 60, deren Beiträge jetzt dringend gebraucht würden, um die medizinische Versorgung der Alten und chronisch Kranken sicher zu stellen, müssten gar nicht zu Hause hocken und um ihre Existenz fürchten. In ihrer Mehrheit könnten die den Laden am Laufen halten und die Mittel erwirtschaften, die dringend für medizinisches Personal und Material gebraucht werden.

Wer isoliert und dadurch geschützt werden sollte, das sind die, die wirklich schwer und lebensgefährlich erkranken könnten: Alte und chronisch Kranke.

Die Gruppe der Alten ab 70 ist überwiegend per se nicht mehr Teil der arbeitenden Bevölkerung und dem Teil der Alten und chronisch Kranken, auf die das noch zutrifft und die man logistisch und finanziell unterstützen müsste, damit sie ihrer Arbeit in Isolation weiter nachgehen können, ist offensichtlich weit kleiner als die der Gesamtbevölkerung, die jetzt zu Hause hockt und auf ihr wirtschaftliches Ende wartet,  während Forscher vorsichtig warnen, dass sich die Zeit, die sie brauchen werden, um Impfstoffe und Therapien zu entwickeln, eher in Jahren als in Wochen bemessen wird.

Ich hab noch mehr Zahlen gefunden:
In Deutschland ist keine Altersgruppe größer als die der 40 bis 65-jährigen.
Wenn man denen den Teppich unter den Füßen wegzöge und sie weiter wie bisher am Aufstehen hindert, dann fallen die der Sozialkasse zur Last. Über 29 Millionen. Die sich dann zu den rund 18 Million Rentnern gesellen. 47 Millionen auf den Schultern von nicht einmal 20 Millionen 21 bis 39jährigen, die mit ihrem Leben eigentlich auch noch was andres vorhatten als Menschen durchzuschleppen, die eigentlich gut für sich selbst sorgen könnten, wenn man sie gelassen hätte.

Es gibt etwas, dem Isolation nicht gut tut. Und das sind Lösungsansätze. Wenn wir weiter nur einen Faktor isoliert betrachten und alle Probleme außer Acht lassen, die wir schaffen, während wir einen Faktor lösen, vergrößern wir das Problem anstatt es zu lösen.

Auf irgendeine Art sind wir alle Hochrisikogruppe.

Und für Viele geht es wirklich um alles.

Frau Fricke wundert sich über elektrische Widerstände

Frauen und Technik, das ist ja so eine Sache. Vor allem, wenn sie dabei mit Männern zu tun haben. Jüngeren zumal. 

Mein WIFI ist mies. Ist es schon lange. Aber so richtig, richtig genervt bin ich davon erst seit kurzem. Und deswegen marschiere ich gleich als erstes im neuen Jahr hinunter in den Telefonshop meines Vertrauens und schließe bei einer sehr netten und kundigen jungen Frau einen neuen Vertrag mit einem neuen Provider ab. Alles andere macht dann der. Find ich gut. Ich muss einfach nur nach Hause gehen und abwarten, bis in ein paar Tagen der Monteur kommt, mich mit Glasfaser ausstattet und dann alles viel besser, schneller und bunter wird.

Der Monteur kommt tatsächlich schneller als gedacht. Er bohrt, er hämmert und als er wieder geht, habe ich ein super Internet. Nur mein Festnetz funktioniert nicht mehr. Mein spanisches Handy auch nicht. Ist aber eh Wochenende, also was soll’s?

Ich verbringe ein sehr ruhiges Wochenende. Dann ist Montag und ich rufe von meinem Festnetzanschluss mein deutsches Handy an. Es klingelt. Eine Nummer wird angezeigt. Es ist nicht meine. Oh!

Ich rufe also vom deutschen Handy aus meine Festnetznummer an. Es klingelt nicht. Aber es springt eine Mailbox an. Es ist die Mailbox meines spanischen Handies. Mysteriös!
Das Gerät selbst wiederum gibt keinen Mucks von sich. Mit dem bloßen menschlichen Auge sieht es aus wie tot.

Sonderbar!

Ich marschiere also zurück in den Telefonladen und frage nach der jungen Frau, die mir den Vertrag verkauft hat. Die hat heute leider frei. Aber ein junger Mann ist gewillt, sich meiner anzunehmen. Ich schätze ihn auf irgendwas unter 30. Neben ihm sitzt eine junge Frau so um die 20, als würde sie da irgendwie gar nicht hingehören. Vielleicht ist sie im Training. Vielleicht ist sie auch sein Supervisor und die Tatsache, dass sie eigentlich die ganze Zeit auf ihrem Smartfon rumdödelt ist gar nicht ihrer umfangreichen Fangemeinde, sondern rein beruflichem Interesse geschuldet. Wer soll das schon wissen?

Kaum hat der junge Mann mir einen Platz angeboten, fragt er mich in mildem Ton, was denn mein Anliegen sei. Und kaum habe ich begonnen, es ihm zu schildern, unterbricht er mich auch schon mit einem ebenso milden Lächeln.
„Mütterchen“, lese ich aus diesem Lächeln, „Lass uns das hier abkürzen. Ich weiß, du bist nur hier, weil du einsam bist und der Arzt heute keine Zeit hatte mit dir zu plaudern und ich habe wichtige Dinge zu tun.“

„Wo ist denn diese Karte, die du gekriegt hast?“ fragt er mich.
„Was für eine Karte?“
„Na so eine Karte. Ist vielleicht mit der Post gekommen.“
„Eine Postkarte?“
„Nein, so aus Plastik.“
„Du meinst die SIM?“

Ich kann sehen, wie der junge Mann denkt:
„Wo hat die alte Dame denn nur solche Ausdrücke her?“
Dann lächelt er gerührt und sagt:

„Ja, genau. Die SIM.“

Ich zeige auf das Handy und versuche ihm weiter zu erklären

„Die ist da natürlich schon drin! Also, das Problem ist…“

Der junge Mann hat offenbar keine Zeit für Probleme. Er hat beschlossen, Teil der Lösung zu sein. Einer schnellen Lösung. Er hat keine Zeit für Erklärungen.

„Und wo ist der Rest?“
„Von der SIM?“
„Ja, wo ist der Rest?“
„Du meinst, die Trägerkarte?“
Er zuckt die Achseln.
„Hab ich weggeschmissen.“

Facepalm-Situation seinerseits!

„Da ist doch die PIN drauf!“ ruft er aus.
Seine Verzweiflung bricht sich in einem kurzen Aufstöhnen Bahn.
„Die hab ich natürlich vorher eingegeben und dann geändert.“, sage ich.
Erleichterung! Aber auch Verwirrung. Dass ich sowas kann!
Und dann wieder Erleichterung.

„Dann muss es doch gehen!“ sagt er.
„Ganz meiner Meinung. Tut es aber nicht. Darum bin ich hier. Wenn ich dann mal…“
Ich sehe, wie er Luft holt und muss leider zu Drohungen übergehen.

„Wenn du mich jetzt noch EINMAL unterbrichst, setze ich dieses Gespräch mit der Shopleitung fort.“
Sein Blick ist irgendwo zwischen Überraschung und Amüsement angesiedelt. Junge, Junge, das hätte man ja nicht gedacht, dass das Mütterchen hier sonen Wind macht. Niedlich irgendwie. Aber auch nervig. Also erklärt er sich schnell:

„Aber ich weiß schon, woran es liegt.“
„Ok, woran liegt’s?“
„Das Telefon ist nicht freigeschaltet.“
„Du meinst, die Hardware?“
„Ja. Ist nur für einen Anbieter zugelassen und für andere gesperrt.“
„Nein, ist sie nicht.“
„Woher willst du das wissen?“
„Weil das mein Telefon ist und ich es schon mit fünf Karten in drei Ländern betrieben habe. Darum. Außerdem,“ ich öffne die Netzwerkeinstellungen, „hier, das Telefon erkennt die Dienste eures Anbieters, gibt aber an, dass die SIM nicht konfiguriert ist. Die Karte wird also erkannt, nur die Nummer nicht. Ich vermute also, dass Ihr entweder die Nummer noch nicht freigeschaltete habt, oder – Überraschung – dass bei der Konfiguration der Karte was schief gegangen ist.“
„Woher willst du das wissen?“
„Weil es hier steht.“
„Das ist auf Deutsch.“
„Stell dir das ruhig auf Spanisch um.“
Der Mann wird unsicher und gibt mir das Handy zurück
„Du kannst doch schnell für mich übersetzen.“
„Ich kann sogar für dich die Spracheinstellung ändern.“ sage ich und tu das auch.

Das macht den jungen Mann nervös. Er winkt eine Kollegin heran und fragt, ob er mal ihr Handy benutzen dürfe. Er pult ihre Karte aus ihrem Handy. Er pult meine Karte aus meinem Handy. Dann legt er meine Karte in ihr Handy ein, wartet eine Weile.
Die Karte funktioniert.
„Und du hast sogar schon eine Nachricht!“ sagt er.

„Prima“, sag ich, „dann lass uns das Ding gleich mal wieder in meinem Handy einlegen.“
Er legt ein, es macht „Ping“, ich hab eine Nachricht. Die ist genau eine Minute alt und geht etwa:
„Wir bedauern die Verzögerung im Transformationsgeschehen. Leider hatten wir eine Havarie, die jetzt aber behoben ist. Willkommen bei (neuer Telefonanbieter).“
Sag ich doch!

„Hattest du wohl falsch eingelegt“

sagt er und weil ich auch keine Zeit für Probleme und bereits eine Lösung habe, wünsche ich einfach nur einen guten Tag und gehe.

Ich muss nämlich noch das Kabelchaos ordnen, das der Monteur hinterlassen hat. All die Boxen und Anschlüsse und Kabel will ich unsichtbar unter einem Schrank verstecken. Dafür sind aktuell die Netzkabel zu kurz, aber – hurra – alle Geräte sind mit C8-Steckern versehen. Das heißt, ich kann mir einfach längere Kabel besorgen und die umstecken. Easy! Und weil lokal kaufen ja so irre wichtig ist, widerstehe ich der Versuchung, mir die Kabel am nächsten Morgen durch ein großes internationales Online-Kaufhaus liefern zu lassen, sondern ich fahre statt dessen mit dem Bus in die Stadt.

In zwei kleinen Läden – nichts. Also muss ich zu Saturn gehen. Immerhin: physisch und lokal. Was soll’s? Auch bei Saturn arbeiten offenbar nur junge Männer. An einen von denen wende ich mich mit meinem Wunsch nach drei C8Kabeln von drei Metern Länge. Der Mann schaut mich aus hohlen Augen an.

In einer Mischung aus kluger Voraussicht und posttraumatischer Belastungsstörung aus meinem Gespräch mit SIM-Boy habe ich eins der zu kurzen Kabel mitgenommen. Das zeige ich ihm jetzt. Dann trottet er vor mir her zu einem Hänge-Display. Dort findet er – völlig überrascht – tatsächlich C8Kabel. Zwei Stück. Alle sind ein Meter fuffzig. Andere hat er nicht. Aber er guckt mal gerade im Intranet. Er guckt. Er findet. Alles, was ich jetzt noch machen müsse ist, etwa eine Stunde lang an den Stadtrand zu gondeln und das Kabel da zu kaufen. Mehr als eins gäbe es aber nicht. Und auch das könne er nicht garantieren. Nee, is klar.

Gegenüber ist Fnac.

Also gehe ich auch da hin. Wenn man mal da ist.

Auch Fnac ist voller junger Männer. Ich wende mich an den ersten, der mir über den Weg läuft. Er steht in der Abteilung mit Computern und Zubehör. Es ist auffällig leer, also kann ich ihn direkt ansprechen, während er gelangweilt auf ein Regal starrt.

C8Stecker? Nie gehört! Und wenn er davon nie gehört hat, gibt es dafür nur eine Erklärung: Die gibts gar nicht.
Ich ziehe meinen C8Stecker aus der Tasche.
Wo ich den denn her hätte? Also aus Spanien bestimmt nicht. Hier gibt es sowas nicht.
Ich ziehe wortlos den Netzstecker aus einem der Drucker, vor denen wir gerade stehen. Es ist ein C8Stecker.
Ob es noch irgendwo Kabel gibt, frage ich ihn.
Er zuckt die Achseln.
„Fernsehabteilung?“ frage ich.
Er deutet in irgendeine Ecke.

Da finde ich einen anderen jungen Mann. Auch der findet mich und meinen Stecker irgendwie süß. An seinem Lächeln sehe ich, dass er denkt, dass ich den bestimmt aus einer Musiktruhe gezogen habe, aus einem Faxgerät oder aus einer dieser lustigen Schwebehauben, die er neulich auf einem vergilbten Foto bei seiner Omi gesehen hat. Putzig, diese alten Leute, wie sie den technischen Fortschritt verpennen und allenthalben irgendwas reparieren wollen, was nun mal der Vergangenheit angehört.
Nee, also solche Kabel sagt er, die gäbe es nicht. Oder nicht mehr. Er jedenfalls hätte noch nie so ein Kabel gesehen. Wo ich das denn her hätte.

Ich sage ihm, dass das ein Euro-Standard-Kabel ist und so ziemlich jeder Fernseher damit ausgestattet ist. Er lacht. Das müsste er doch wissen. Er arbeitet ja schließlich mit Fernsehern. Also ehrlich. Aber er will ja helfen, also sagt er:
„Ach, du willst so eins zur Bildübertragung?“
Ich kann nicht ganz folgen.
„Du meinst einen HD-Stecker? Die sehen doch vollkommen anders aus!“ Er lacht wieder.
„Hast du denn mal ausprobiert, ob dein Kabel überhaupt passt? Ich glaube ja, du suchst hier einen von diesen platten…“
Er geht zu einem Regal und wedelt mit einer Packung.
„HD-Stecker.“ sage ich.
Der junge Mann schaut auf die Packung und ist verblüfft.
„Stimmt, sagt er. HD. Steht drauf.“
Ich bin auch verblüfft. Wenn auch aus anderen Gründen.

Ich erkläre ihm den Unterschied zwischen einem Netz- und einem HD-Stecker, ziehe auch hier einen Stecker aus einem Fernseher und freue mich an den entgleisenden Gesichtszügen des jungen Mannes als der Bildschirm schwarz wird und ich ein loses Kabel in meiner Hand halte und ich werde auch hier wieder Zeugin eines Erkenntnisprozesses, der vermutlich einer der sehr wenigen im Leben dieses jungen Mannes sein und bleiben wird.  Dann verabschiede ich mich.

Auf der Rolltreppe schalte ich mein Handy ein. Geht ja wieder.
Ich rufe die Seite von amazon auf, suche nach C8 Steckern und habe meine Bestellung abgeschickt, bevor ich unten angekommen bin.

Am nächsten Morgen kommt das Päckchen.
Ohne Belehrungen.
Ohne Belustigung.
Ohne kleine Idioten, die auf mich herabblicken.

Und auch, ohne dass ich Angst haben muss,
dass mir mitten im Gespräch die Sicherungen durchbrennen.

 

Frau Fricke wundert sich über die Wirklichkeit

Ich werd ja oft gefragt, was ich so beruflich mache. Und dann sage ich: Ich stelle Realitäten her. Ich baue Welten. Ich bin die Architektin von Wahrheiten, die so schön sind, dass die, die sie kennen lernen ein Teil von ihnen sein möchte.

Alles, was man auf Hogwarts lernen kann ist kalter Kaffee gegen das, was ich so mache. Ich habe die Gabe Dinge zu sehen und sichtbar zu machen, die verborgen blieben, wenn es mich nicht gäbe. Ich kann machen, dass Männer sich wie Kerle fühlen, wenn sie sich in ein Auto setzen. Ich kann machen, dass Menschen heulend ihre Eltern anrufen, bevor sie den Kaffee kaufen, den ich ihnen verkaufen will. Und ich kann Dinge in Zusammenhänge bringen, die so offensichtlich sind, dass sie zuvor keiner gesehen hat.

Was für ein großes Geschenk Kreativität ist, ist mir erst spät bewußt geworden.

Ich wusste nicht, dass Menschen Drogen nehmen und in Disney-Filme gehen, um den Zustand zu erreichen, in dem ich eigentlich relativ dauerhaft bin.
Wo andere sich unter Druck gesetzt fühlen, werde ich von mürrischen Zwergen belästigt. Wo andere ein Tortendiagramm zeigen, erzähle ich die Geschichte vom Bären in der Bar.

Ich weiß, wie es ist, sich durch Geschichten verständlich machen zu können.
Wie es ist, wenn man plötzlich Verständnis erkennt, wo vorher nur Verwirrung war.
Ich weiß, wie es sich anfühlt, wenn einen Menschen ansehen die plötzlich sehen, was man selbst sieht, die plötzlich verstehen, was man selbst versteht. Die immer mehr haben wollen von dem Gefühl, das du ihnen geben kannst. Das Gefühl, dass die Welt, in der sie sich bewegen gar nicht so komplex und unverständlich ist, wie sie dachten. Dass sie nicht so bedrohlich ist. Dass der Bär und der Zwerg eine Antwort haben.
Und dass man auf ihrer Seite auf der richtigen Seite ist.

Ich kann machen, dass sich das ganze Leben wie warmer Honig anfühlt. 

Und weil das so ist, war mir auch sehr früh schon die Verantwortung klar, die mit dieser Gabe einher geht. Ich kann machen, dass Dinge geschehen – und ich muss sicher stellen, das diese Dinge auch dann noch im Interesse desjenigen sind, den ich berate, wenn die Zwerge abgezogen sind und die Bären den Honig aufgegessen haben.
Irgendwann werden auch meine Christopher Robins groß und dann müssen die Ideen, die ihnen mein Pooh Bär nahe gebracht hat, immer noch funktionieren.

Meiner Phantasie sind also durch die Realität natürliche Grenzen gesetzt.

Ich darf zum Beispiel nicht lügen. Selbst, wenn ich das wollte, würde mir das ein Gesetz verbieten. Will ich aber nicht. Lügen ist für Leute, die nicht genug Grips haben, um das Wunderbare im Alltäglichen zu sehen. Meine Aufgabe ist es nicht, Dinge zu zeigen, die nicht da sind. Meine Aufgabe ist, Dinge sichtbar zu machen, die da sind, aber bisher unsichtbar waren.

Das ist eine sehr, sehr feine Linie.
Und wer sich nicht so sicher in der magischen Welt bewegt, übersieht sie offenbar leicht.

Für Claas Relotius ist diese feine Linie gerade zu dem Stolperdraht geworden, der die Selbstschussanlage ausgelöst hat. Als Redakteur hat er zumindest Teile seiner Geschichten erfunden. Geschichten, die mit schöner Regelmäßigkeit ausgezeichnet wurden. Weil sie so schön waren. Weil sie so schön erzählt waren. Weil sie komplexe und unverständliche Dinge plötzlich ganz einfach machten und sich mit ihnen das Leben wie warmer Honig anfühlte.

Claas Relotius war der Magier der SPIEGEL Welt. Dafür hat er seine Preise gekriegt. Dafür hat er nach Jahren der freien Mitarbeite seine Festanstellung bekommen. Dafür wurde er geachtet und geehrt und durfte sich selbst wiederum in der Illusion verlieren, vielleicht doch nicht zum Bettel-Lohnschreiber werden zu müssen, wie so viele seiner Zunft.

Ich stelle mir vor (bitte, jetzt kommt eine Phantasie. Das ist so vielleicht nie passiert), wie Relotius in die großen Augen seiner Vorgesetzten schaute, die sagten: „Mach uns noch eine Seifenblase. Zeig uns die Welt, so wie wir sie sehen wollen. Gibt uns Mut, dass wir in einer Welt leben, in die wir noch hineinpassen.“ Ich stelle mir ihre wässrigen Augen vor und Relotius als jemand, der nicht nein sagen kann und auch nicht nein sagen will, weil sich auch für ihn die Welt besser anfühlt, wenn er die Tür zu der Welt aufschließen kann, hinter der gleich die Führung durch das neue Glück beginnt. Ich stelle mir vor, wie er noch kurz gezögert hat und seine Vorgesetzten dann sagten:

„Wir geben dir dafür auch Weihrauch, Myrrhe und Gold.
Oder wahlweise eine unbefristete Festanstellung.“

Ich stelle mir vor, wie er losgeschickt wird, mit einem klaren Briefing, wie die Welt aussehen soll, die in seiner Seifenblase erscheint. Wie er auszieht und genau diese Welt nicht findet. Aber er findet eine. Und aus der lässt sich was machen. Ein bisschen getuscht hier, ein bisschen gebogen da und schon sieht alles aus wie echt. Und es gibt wieder feuchte Augen und einen Preis und das Gefühl, dass alles in Butter ist.

Man hat das Einhorn gefunden. Und es ist fast sowas ähnliches wie echt.
Mehr lag bei dem Briefing eben nicht drin.

Und nun wird er auf eben diesem Einhorn aufgespießt. 33 Jahre ist er alt. Keiner bestreitet, dass er ein wunderbarer Schreiber ist und im Grunde ein großartiger Redakteur, aber sein Leben als solcher ist dennoch vorbei. Ihm haut keiner auf die Finger und sagt: „Alter, da hast du aber mal richtig Mist gebaut – und das auch noch in Zeiten, in der die Presse sowieso schon wie die Fliege an der Wand klebt. Aber du bist begabt und wir sind nicht so ganz frei von Schuld. Also, versuchen wir es noch mal besser.“ Ihm haut man gleich so richtig auf die Fresse. So, dass er nicht mehr aufsteht und die, die am dichtesten dran sind, die schlagen am kräftigsten zu. Als wenn es sowas vorher noch nie gegeben hätte. Als wenn Tom Buhrow in seiner Zeit als Amerika-Korrespondent nicht so getan hätte, als könne er Spanisch, als er Einwanderer fragte, was sie sich denn so von Obama versprächen und die Antwort „Cambios“ (Veränderungen) mit „Geld“ übersetzte. Das, fand ich damals skandalös und das finde ich noch heute. Weil es die Wahrheit unzulässig verfälscht, weil es uns eine Intention unter die Weste jubelt, die es tatsächlich nicht gibt. Tom Buhrow ist heute Intendant des WDR. Claas Relotius ist beruflich so gut wie tot.

Ich verstehe, dass sich die Aufgabe von Marken-Fuzzis und Journalisten unterscheidet.
Die einen schaffen Welten. Die anderen bilden sie ab.

Ich verstehe auch, das Claas Relotius etwas ist, das ich nicht bin und nie sein wollte:
Ein Lügner.

Aber vielleicht ist er „Jakob der Lügner“. Vielleicht ist er einfach jemand, der der Versuchung nicht widerstehen konnte, den Menschen die Welt zu geben, die sie brauchten. Vielleicht auch nicht. Ich weiß es nicht.

Aber ich weiß ganz gewiss, dass es Menschen gab, die ihn zu dem gemacht haben, was er ist. Die ihm keinen Einhalt geboten haben, die ihm klar gemacht haben, wie er sein sollte und die ihn nun treten und mit dem Finger auf ihn zeigen, nur weil durch ihn deutlich wurde, dass ihre überzogenen Vorstellungen, dass ihre Anforderungen eine größere Illusion waren, als die Geschichten von Claas Relotius selbst.

Denn sein wir mal ehrlich: Wir schätzen die Realität nicht. Wir wollen unsere mittelmäßige Welt nicht mittelmäßig beschrieben haben. Wir wollen Helden. Wir wollen gerettet werden. Wir wollen keinen haben, der uns sagt, dass das schadstoffärmste Auto das ist, das man nicht fährt. Wir wollen jemanden, der uns sagt, dass wir uns frei kaufen können mit Emissionswerten und Katalysatoren. Wir wollen jemanden, der uns sagt, dass alle, die nicht so denken wie wir, unterbelichtete Idioten sind. Wir wollen einen Jakob, der uns sagt, dass die Russen kommen und uns retten. (Bedauerlicherweise darf man das wohl tatsächlich wörtlicher nehmen, als mir lieb ist.)
Wir wollen jemanden, wie Claas Relotius.

Jemand, der machen kann, dass sich das ganz Leben wie warmer Honig anfühlt.

 

 

 

 

 

Frau Fricke wundert sich, ob sie da ist

Ich hatte einen Traum. In all den Jahren, in denen ich mir als kleines Kindergartenkind ansehen musste, wie „Die Großen“ Krippenspiele inszenierten, träumte ich davon, endlich auch mitspielen zu dürfen. Ein Schaf vielleicht. Ich wartete geduldig darauf, endlich qualifiziert genug zu sein, mitspielen zu können. Mein halbes Leben lang. Dann wurde ich endlich sechs. Genau in dem Jahr, in dem die Entscheidung fiel, dass „Die Kleinen“ putziger anzusehen wären. War das ein Omen?

Ich kann mir genau vorstellen, wie sich die Kandidatinnen gefühlt haben, die Andrea Nahles gestern von den sicheren Listenplätzen gestrichen hat, um dort Newcomer zu implementieren. Dabei ist auch eine Kandidatin über die Klinge gesprungen, die seit 1994 im Europaparlament sitzt, hoch geschätzt ist und all die Verbindungen haben dürfte, von denen Sechsundzwanzigjährige noch nicht recht wissen, wie man sie aufbaut. Der Teil, in dem es keinen Spaß, Recht zu behalten, ist dass die so von Andrea Nahles bevorzugte ausgerechnet die stellvertretende JUSO-Vorsitzende ist. Auf dem Platz begann auch ihre eigene Karriere. Es stimmt also, dass Führungskräfte immer Kopien ihrer selbst fördern. Ich sage das schon seit Jahren als Begründung dafür, warum wir die Frauenquote brauchen. Hmmmmm…

Beklagenswerter Weise zeigt sich mit dieser Besetzungrochade ein Trend, den man durchaus verallgemeinern kann. Wir, die Geburtenstarken Jahrgänge, die von denen es am allermeisten gibt, die daher eigentlich am allermeisten Lärm machen sollten, wir sind die übersprungene Generation. Die, die keiner braucht und die stillhalten, weil sie sich dafür schämen. In einem Sandwich von lautstarken Anspruchstellern sind wir die träge Butter in der Mitte, die zwar alles zusammen-, sich aber brav bedeckt hält.

Wir sind eingeklemmt zwischen den 68ern, denen Randale einfach Spaß macht und die von alten Gewohnheiten nicht lassen können und der Nachfolgegeneration, die wir an unserem Busen genährt haben und die uns leider glaubt, dass sie etwas ganz Besonderes und Einzigartiges ist und die Welt sich ihr unterwerfen wird. Wir selbst tun das ja schon. Gelernt ist gelernt. Und beide Generationen, die vor uns und die nach uns, profitieren davon, dass wir tun, was wir am besten tun: Klappe halten und dienen.

Interessant ist dabei auch ein Phänomen, das ich nicht zum ersten Mal beobachte: Wenn Führungspositionen schon mit Frauen besetzt werden müssen, dann sollen diese Frauen bitte wenigstens nach was aussehen. Also jung sein, schick und keck. Sowas, das man sich früher auch gern ins Vorzimmer gesetzt hätte. Etwas, das sich auf Fotos gut macht.
Die alten Herren der SPD, einige von ihnen schon in den 70ern, haben ihre Plätze behalten. Sonst wäre aber auch was los gewesen! Die kommen ja auch aus der Generation der Motzer und Querschießer.  In der Summe halte ich schon mal fest:

Wir sind viele – und wir sind nichts.

Aus einer berufsbedingten Deformation heraus habe ich mich natürlich sofort gefragt: Warum macht Frau Nahles das? Warum macht die SPD da mit? Dafür muss es ja irgendeinen Grund geben. Gehts da um massenhaften Wählerzulauf?

Gehts um Frauen?
Schauen wir uns das doch mal an: Die SPD hat traditionell vergleichsweise viele weibliche Wähler. Trotzdem kann man da ja noch was drauflegen, indem man mehr Listenplätze mit Frauen besetzt. Das allerdings ist nicht geschehen. Die jungen Frauen, die hier eingesetzt werden, haben Frauen jenseits der Wechseljahre verdrängt.
Das kann’s also schon mal nicht sein.

Gehts um Millenials?
Vielleicht schauen wir uns einfach mal die Alterszielgruppe an. Über die, die Millenials, hört man ja ne Menge, weil sie „Digital Natives“ sind und damit über eine geheime Superkraft verfügen, von denen vorangehende Generationen nicht einmal wissen, was das ist. Weil Dinge erst echt sind, wenn sie digital sind, erfinden die Digital Natives nämlich gerade alles total neu. Nennen wir sie die Disrupter.

Schicker Name jedenfalls. Schicker als der Name unserer Generation: Die Geburtenstarken Jahrgänge. Der klingt zwar nicht so toll, ist aber durchaus zutreffend gewählt. No shit! Von uns gibt es viele. Sehr viele. Doppelt so viele wie Millenials. Ist es da klug, denen auf den Abtreter zu pinkeln,  um damit einer Generation zu imponieren, von denen es nur halb so viele gibt? Wenn die Brüskierten alle gehen, rücken nur halb so viele hofierte nach. Aber was, wenn es gar keine Konsequenzen zu befürchten gibt? Unsere Generation ist ja nicht gerade für ihre Neigung bekannt, Forderungen zu stellen.

Wir sind die Schweiger. Die Wegducker. Die Es-allen-recht-Macher.

Vermutlich hatten wir dazu auch nie eine wirkliche Alternative. Denn vor uns in der Pipeline stehen die, die unser Leben immer lautstark begleitet haben: Die 68er. Das sind – das, um Missverständnisse zu vermeiden – nicht etwa die um 1968 geborenen, sondern im Gegenteil die, die um 1968 geboren haben oder hätten gebären können. Also die Nachkriegsgeneration der heute irgendwas um die Siebzigjährigen.

Wer diese Generation mal aus der Nähe betrachten will, findet sie im allgemeinen überall dort, wo man sich empört. Muss auch nicht umbedingt einen Sinn ergeben. Hauptsache motzen und Hauptsache laut. Diese Generation, die wie keine andere auf Händen getragen wurde, die rückzahlungsfreies Vollbafög kannte, die einen De-facto- Renteneintritt vor Erreichen des 60 Lebensjahr hatte, der auch mit einem Hauptschulabschluss noch Karrieren offen standen, die ein Häuschen im Grünen und Campingurlaub in Italien ermöglichten, diese Generation also, findet eigentlich immer was, das einen lautstarken Protest wert ist. Macht ja auch Spaß. Vor allem aber gehen sie immer davon aus, das was sie betrifft, auch alle anderen interessieren müsste. Eine Generation gewordene Narzisstische Persönlichkeitsstörung so zu sagen. Aber – das darf hier nicht verschwiegen werden – der Erfolg gibt ihnen Recht. Siehe oben.

Und dann kamen wir.

Leider gleichzeitig mit der Sexuellen Revolution. Mit dem Revolution überhaupt. Kaum waren wir da, stand die Welt Kopf. Tolle Sachen passierten. Parties! Drogen! Kommunen! Miniröcke! Lange Haare! Und zweimal mit derselben zu pennen, war bei allgemeiner Missachtung verboten. Die ganz, ganz große individuelle Freiheit stand ganz, ganz hoch im Kurs. Nutzlos zu sein und trotzdem bedeutend war richtig weit vorn. Und da stand man nun da mit der Familie. Und mit Verpflichtungen. Total uncool – das damals noch doof hieß. Doof gelaufen. Da konnte man nur noch Sofortmaßnahmen am Unfallort vornehmen. Eine ganze Gesellschaft einigte sich darauf, dass sich Kinder irgendwie beiordnen müssten.  „Warst du auch brav?“ wurden wir gefragt, wenn man uns irgendwo abholte, wo wir vorübergehend geparkt waren, was sich leicht übersetzen ließ mit: „Warst du auch hübsch unsichtbar?“ Wir waren die, die man bestenfalls sehen, aber nicht hören sollte. Wir waren die, die Mutti und Vati am Wochenende nicht wecken durften. Wir waren die, die nach Mitternacht die Gläser zwischen den knutschenden Party-Gästen einsammelten und uns freuten, wenn mal kurz jemand aufschaute und sagte: „Guck mal wie niedlich“ und schnell noch austrank, bevor er uns sein Glas in die Hand drückte. Von uns wurde erwartet, dass wir keine Mühe machten  und nicht störten.

Wer Glück hatte, der erlebte diese Indifferenz als Antiautoritäre Erziehung, die gern so interpretiert wurde, dass Kinder sich schon irgendwie selbst groß kriegen, wenn man nur nicht eingriff. Du machst das schon. Ich bin dann mal weg. Auf einer Demo, auf einer Party. Auf irgendwas, das wichtiger ist als du – und mir klar mehr Ansehen bringt.

Die Pop Stars der politischen 68er Gudrun Ensslin, Andreas Baader und Ulrike Meinhof, beschlossen mit bekannter Konsequenz, dass sie sich leider aufgrund anderweitiger Engagements gar nicht mehr um ihre Kinder kümmern konnten. Gibt eben Wichtigeres.

Immerhin hat uns das ausreichend auf die Zukunft vorbereitet. 

Ausgerechnet, als wir auf den Arbeitsmarkt kamen, gab es nämlich eine globale Krise. Und infolge dessen keine Arbeitsstellen, keine Ausbildungsstellen, Bafög wurde gestrichen. Wir waren viele, die Konkurrenz groß und die Arbeitsplätze wenige – und von der Vorgängergeneration besetzt, die an ihre jüngeren Kollegen dieselben Ansprüche hatte, wie an ihre Kinder: Mach dich nützlich und halt die Klappe.
Und das haben wir gemacht.

Wir waren flexibel und bereit, für wenig Geld sehr, sehr viel zu arbeiten. Wir mussten ja unser Bafög zurückzahlen. Und wenn wir uns tatsächlich trotz allem für Kinder entschieden haben, mussten wir die alleine groß kriegen, denn Oma und Opa sind lieber nach Lanzarote geflogen. Man lebt ja nur einmal. Wir lebten inzwischen vorübergehend mit noch mehr Konkurrenz,  denn nach Maueröffnung wurden die Arbeitsplätze noch rarer, die Mieten stiegen mit der Nachfrage – und wir hielten die Klappe und machten, was wir gelernt hatten: Wir sortierten uns bei und funktionierten. Irgendwann, dachten wir, irgendwann kommt auch unsere Stunde. Denn das sahen wir ja an der Generation vor uns: Irgendwann ist mal alt genug, um einen Verdienst zu bekommen, der auch tatsächlich zum Leben reicht.

Zunächst kamen aber mal unsere Kinder. Und an denen wollten wir alles besser machen. Obwohl uns unsere Mütter aus Raviolidosen und von Tütensuppen ernährten, lernten wir Vollwertküche und kauften uns Getreidemühlen, um die lieben Kleinen optimal ernähren zu können. Weil sich für uns kein Mensch interessiert hatte, haben wir Leon und Lea zehnmal am Tag gefragt, was sie jetzt am liebsten machen würden und ihre Kindergeburtstage wie Filmsets ausgestattet. Wir haben getan, was wir am besten konnten, wir haben unser Leben untergeordnet. Wir hingen da eingeklemmt zwischen einer fordernden Elterngeneration und einer Nachfolgegeneration, die wir zu Fordernden gemacht hatten und da hängen wir nun. Und wir halten die Klappe.

Wir halten die Klappe, selbst, wenn es uns an den Kragen geht, an die Zukunft, an die Zeit, wenn wir keine Zeit mehr haben für aufwendige Kurskorrekturen.

Wir halten die Klappe, wenn wir in die Rentenkasse einzahlen, obwohl wir wissen, dass das System schon rein rechnerisch nicht funktionieren kann. Dass wir bitterer Armut entgegen sehen und einer Generation, die für uns nicht nur nicht im selben Maß zahlen will, sondern das auch gar nicht kann.

Wir halten die Klappe, wenn wir als über 50jährige zwar noch 20 Jahre Arbeitszeit von uns haben, aber trotzdem keine Chance, einen Job zu bekommen.

Wir halten die Klappe, wenn es die Geldpolitik den Wenigerverdienenden, denen bei denen es nicht für ein breit angelegtes Aktienportfolio reicht, nicht mehr ermöglicht, selbst für ihr Alter vorzusorgen. Und auch, wenn die Immobilienpreise aufgrund einer laxen Geldwäschekontrolle ins Unbezahlbare steigen.

Wir sind einfach still und fügen uns. 

Wir zucken die Achseln und sagen leise „Da kann man wohl nix machen.“ Und wir denken das wirklich, weil schon die Anderen so laut sind. Die, die über uns sind und ihre Rente verteidigen und die, die unter uns sind und von uns ein anderes Leben versprochen bekommen haben, das sie jetzt lautstark einfordern.

Vielleicht hatte Nahles ja auch einfach nur gehofft, dass Millenial-Kevin endlich mal die Klappe hält, wenn sie ihm zwei Opfer bringt.  Das wird er natürlich nicht tun, denn die Klappe aufzureißen, das ist sein USP. Seiner und der seiner Generation. Und Recht hat er. Es ist seine Sache, seine Sache zu vertreten. Es wäre unsere, unsere Sache nach vorne zu bringen. Wir tun es nur einfach nicht.

Das ist der Grund, warum wir übergangen werden. Weil wir es mit uns machen lassen. Weil wir nicht laut werden. Weil wir glauben, wir müssten alles erdulden. Und das werden wir dann wohl auch.

Wir werden still die Scherben aufsammeln, die die 68er hinterlassen haben und damit der nachfolgenden Generation den Weg pflastern, die schon ungeduldig dasteht und fragt, warum das so lange dauert. Und wenn wir abtreten, dann werden wir kein Vermächtnis haben. Wir waren die, die den 68ern nicht im Weg standen und die Millenials bei ihren Zielen unterstützt haben.

Wir selbst, wir sind gar nicht da.

 

Frau Fricke wundert sich über Loser

„Use it or you lose it.“ wispern Personal Trainer, ihren Klienten zu, um uns Marshmallow-Männchen einen Riesen-Schrecken einzujagen. Was wir nicht benutzen, das ist irgendwann einfach nicht mehr da. Ist das schlimm? 

Neulich war ich beim Arzt. Mal wieder. Und ich ärgere mich. Ich hab da was. Und seit fast zwei Jahren weiß keiner, was. Es ging mit einem kleinen roten Fleck los und ist jetzt ein relativ großflächiger Ausschlag. Über den kleinen Fleck zuckte die Ärztin die Achseln. Hat man mal, fand sie. Weiß auch nicht. Geht wieder weg. Ging es aber nicht.
Seit dem machen google und ich ihren Job. Und wir sind offenbar genauso lausig darin wie sie.  Ich sitze also beim Arzt und ärgere mich, weil ich einem deutschen Politiker leider Recht geben muss, der kürzlich meinte, die Leute sollten mal nicht so oft zum Arzt gehen. Eine app täte es ja auch. Er hätte da eine, die ihn in 24 Fragen zur Diagnose führt. Und da denke ich noch: Minimal einer von den beiden ist ein Vollidiot.
Denn Ärzte sind wahnsinnig wichtig – und zwar gerade, indem sie etwas herausfinden, das sie NICHT gefragt wurden.
So eine App, das ist ja der Witz daran, folgt ja nur standardisierten Prozessen.
Eine App ist eine Murmelbahn. Ein guter Arzt ist jemand, zu dem ich gehe, weil ich Husten habe und der mir sagt: „Äh ja, das mit dem Husten ist einfach nur ne Erkältung, aber was ist das denn da für ein Huckel auf Ihrem Rücken? Seit wann haben Sie den denn schon?“ Und der so einen Tumor findet.

So einen Arzt kann man nicht durch eine App ersetzten.
Einen Gesundheitsminister der seine vollkommene Unwissenheit durch derart originelle Vorschläge demonstriert, den schon, finde ich.

Und natürlich auch dieses blinde Huhn im Kittel, das gerade vor mir steht. Denn diese Ärztin ist, weil sie uninteressiert ist an mir und an ihrem Beruf, eigentlich nichts weiter als ein Hindernis zwischen mir und einer app, die das in Zusammenarbeit mit einem Labor besser hingekriegt hätte.
Was nämlich wichtig ist, zu verstehen, ist:

Apps ersetzen keine Menschen. Apps ersetzen Indifferenz. 

Dem Einzelhandel hat die Digitalisierung ja schon große Stücke aus der Flanke gerissen.
Und das hat er genau genommen von langer Hand selbst vorbereitet. Die Läden sind immer größer geworden, die Personaldichte immer geringer. Verkäuferinnen, die was wussten und auch Spaß an ihrem Job hatten, wurden durch billigere Kassiererinnen ersetzt,  die lustlos ein Sortiment in die Regale räumen, in dem sie nicht einmal eine ungefähre Orientierung haben. Bevor ich eine Verkäuferin frage, ob es irgendwas auch irgendwie anders gibt – größer, schwärzer, schöner – weiß ich schon die Antwort:

„Wenn’s da nicht hängt…“ Ein Satz übrigens, der nie zu Ende gesprochen wird.

Wenn es da hinge, würde ich dann fragen?
Und wenn es hier sowieso nur das gibt, was ich mir selber raussuchen kann, was machst du dann hier?

Neulich, als ich eine Porzellandose in einem der Kaufhäuser kaufte, die gerade mal wieder vor der Pleite stehen, übergab mir die Kassiererin ein Päckchen, das in Seidenpapier eingepackt war. Es klapperte. Ich gab ihr die Dose zurück und bat sie, die noch einmal einzupacken und zwar so, dass zwischen Deckel und Dose eine Lage Papier liegt. „Ich muss damit noch fliegen“, erklärte ich mich scheu.
Sie verdrehte die Augen.

Amazon verdreht nie die Augen. 

Wenn die Leute die Wahl haben, zwischen miesem, zeitraubendem physischen Service und digitaler ruck-zuck-wir-bringens-auch-nach-Hause-Einkauferei, wofür entscheiden die sich wohl?

Also: Da wo keine Liebe ist, ist bald amazon. Oder eine Gesundheits-App. Oder sonstwas.
Und darum ist es auch nicht schade. Was schade ist, ist, dass die Gleichgültigkeit der Doofen auch die Ambitionierten mit in den Abgrund reißt und uns so wunderbarer Erfahrungen beraubt – und vielleicht sogar des Lebens.

Denn ich muss schon mal etwas Gutes erfahren haben, um etwas Schlechtes zu erkennen. Ich muss wissen, dass es ärztliche Behandlung jenseits der Standardfragen gibt.
Wenn ich zum Beispiel mein Leben lang in Buchhandlungen eingekauft habe, in denen Buchhändler wahlweise auf die Spiegel-Bestseller-Liste verweisen oder darauf, dass sie jeden Titel innerhalb von vierundzwanzig Stunden bestellen können, dann gibt es da nichts, was man nicht durch einen Versandservice ersetzen könnte. Ich komme – ganz wie eine Diagnose-App – aber auch nicht darauf, etwas zu vermissen, dass ich nicht kenne.
Das ist tragisch. Denn wer zu einem Buchhändler geht, um das Buch zu kaufen, das zu kaufen er sich schon vorher vorgenommen hatte, der hat ja keine Ahnung, was eine richtige Buchhandlung ist. So ein richtiger Buchhändler, der kennt alle seine Bücher. Vor allem die, die sonst keiner kennt. Und er weiß genau, was du magst. Und besser noch, der weiß genau, was du brauchst. Und der öffnet dir Türen zu Welten, die du allein nie entdeckt hättest. So ein Buchhändler, der steht nicht an der Kasse. Der verändert Leben. Und er tut das, weil du ihm nicht egal bist. Und wenn du ihm egal bist, sind es jedenfalls nicht seine Bücher. Und eben hierin liegt das Unersetzliche:

Eine app kann nicht lieben.

Ihre Kunden nicht. Bücher nicht. Medizin nicht. Eine app ist per se gleichgültig.
Und wir sind bereit, uns damit abzufinden, weil wir es nicht mehr besser kennen.
Weil wir eindimensional denken. Weil uns die eminente Bedeutung zwischenmenschlicher Interaktion nicht klar ist.

Wir denken wirklich, ein Buchhändler verkauft einfach nur Bücher.
Wir denken wirklich, ein Barmann schenkt einfach nur Bier ein.
Und selbst der Gesundheitsminister denkt, ein Arzt stellt aufgrund von Standardfragen Standarddiagnosen.

Wir haben verlernt, dass 50% ihrer Lieferung aus Hingabe besteht.

Wir haben das verlernt wie wir schon Kartoffelbrei-machen verlernt haben.
Oder Brot backen. Oder wie man Pfefferminze von Brennnesseln unterscheidet.

Und jetzt haben wir verlernt, dass es jemanden geben sollte, dem wir nicht egal sind.

Frau Fricke wundert sich über unbemannte Raumfahrt

Männer sollen ja vom Mars sein, höre ich, und Frauen von der Venus. Gibt es da wirklich überhaupt kein Besuchsprogramm? Keinen Studentenaustausch? Nicht mal Sprachkurse? Irgendwie sind wir lost in translation. 

In letzter Zeit wird ja eine Menge über Frauen geschrieben. Gelegentlich auch von Männern übrigens. Und die meisten davon sind genervt. Eben war es noch sehr gemütlich so in der Chefetage, auf dem Start-Up-Summit, in der Wirtschaftsredaktion und jetzt kommen die Tussen und heulen rum, dass sie keinen Keks abgekriegt haben. Jetzt zählen die die Führungskräfte durch, rechnen nach, was wer wo verdient und wer wen mal wohin gepackt hat und dann machen die darüber ein Riesenfass auf.

„Siehste“, sagen die, die sich trauen „und darum haben wir eben genau keinen Bock auf euch. Weil das mit euch immer total uneasy wird. Weil man bei euch immer einen Untersetzer benutzen muss. Weil ihr einfach total humorfrei seid.“

Und dann fühle ich mich mies. Weil ich möchte natürlich, dass sich alle supergut fühlen. Ich möchte auch nicht die Doofe sein, die als einzige nicht über das Furzkissen lachen kann. Wenn es irgendetwas gibt, an dem ich ganz deutlich merke, dass ich kein Mann bin, dann ist es das.

Männern ist es nämlich beneidenswert Wurscht, ob sich Frauen in ihrer Gegenwart knorke fühlen. Um die geht’s ja gar nicht. Es geht ja darum die anderen Jungs zu beeindrucken.

Es geht überhaupt nicht um Frauen. Das machen Männer komplett unter sich aus. 

Erst neulich gab es einen Skandal, der das seltsam transparent machte. Also, genau genommen ein Skandälchen. Ein im letzten Moment abgefangener Kommet, der nicht mehr in unsere Welt stürzte. Was war passiert?

Piloten einer Airline hatten Videos ausgetauscht. Home made videos. Von sich selbst. Genau genommen von sich selbst, wie sie es gerade irgendjemandem vom Kabinenpersonal besorgten. Ich glaube, das ist eine ziemlich zutreffende Darstellung.

Natürlich hätte ich auch eleganter schreiben können. „Sie tauschen Videos aus, auf denen sie selbst und eine Kollegin zu sehen waren, wie beide sich den Freuden körperlicher Zuneigung hingaben.“ Aber das würde eben den Sachverhalt nicht korrekt wiedergeben. Denn die Frauen auf diesen Videos waren praktisch gar nicht da. Für die interessierte sich kein Mensch. Worum es ging, war ein „Schneller, höher, weiter“, in dem die betroffenen Damen nur die Sandbox waren, in die es zu springen galt, die Tartan-Bahn, auf der man die Leistung erbrachte, die Latte (Haha, sie hat „Latte“ geschrieben!), die es zu reißen galt (haha, sie hat… egal.).

Woher ich das weiß? Ganz einfach: Die Videos tauschten die Piloten nur untereinander. Die Frauen wussten nichts davon, dass sie gefilmt worden waren. Sie wurden auch nicht mit dem cinematographischen Material beglückt. Als Souvenir so zu sagen. Man verschickte diese Filmchen auch nicht als Bewerbungsmaterial, an andere Damen des Personals, um diese von der Qualität der eigenen Dienstleistungen zu überzeugen. Die Bewegtbilder dienten einzig dem Wettbewerb und dem gegenseitigen Amusement.  Vielleicht auch als Kerbe am Cold. Wer weiß das schon? Sie dienten jedenfalls ganz sicher keiner einzigen der Frauen, die – aus welchen Gründen auch immer – dämlich genug waren, mit ihrem Chef ins Bett zu gehen.

Übrigens gab es keinerlei Konsequenzen. Die Fluggesellschaft räumte ein, dass ihr das in Frage stehende Material vorläge, bedauerte aber, dass man seine Quelle nicht hätte ermitteln können. Tatsächlich?

Interessiert das wirklich keinen Schwanz?

Oder mal so: Wenn sich all die auf dem Porsche räkelnden Bikinimodels, die Sextapes und die Höhöhö-Bemerkungen, die Männer so von sich geben, an eine männlichen Zielgruppe wenden, findet diese männliche Zielgruppe das dann in ihrer Gesamtheit top? Reden die auch so über ihre Frauen und Töchter? Bin ich jetzt nur grenzenlos naiv, wenn ich denke, dass die Schwanzlurche eine Minderheit sind und dass die auch der Mehrheit der Männer unglaublich auf den Sack gehen? Und wenn das so ist – warum sagen die dann nichts? Warum tun die nichts? Warum distanzieren die sich nicht? Warum sagen die nicht mal: „Selber doof!“

Ich hab verstanden, dass das Verständnis von Männern und Frauen untereinander begrenzt ist. Ich selber stehe da manchmal im Dunkel  – wie dieses Blogpost ja deutlich erkennen lässt. Ich nehme es Männern deswegen nicht übel, wenn sie manchmal ein eklatantes Unverständnis Frauen gegenüber an den Tag legen.

Ich verstehe, dass es für einen Mann schwer zu verstehen ist, warum alle am Markt befindlichen Wirtschaftsmagazine an Männern orientiert und für Frauen daher weitgehend untauglich sind. Und ich sehe es einem sehr geschätzten Kollegen nach, dass er erstaunt meinte, die seien doch alle geschlechtsneutral und das Manager Magazin habe sogar mal eine Modestrecke gehabt. Geschenkt.

Ich kann nachvollziehen, warum Männer am liebsten andere Männer befördern, die genauso sind wie sie selbst. Die die gleichen Ziele verfolgen, dieselben Konzerte gehört und eine Dauerkarte für den selben Fußball-Verein erstanden haben. Ich kann verstehen, warum sie glauben, es sei ein Zufall, dass sie keine einzige leitende Position mit einer Frau besetzt haben. Ich glaube ihnen, dass sie glauben, dass sie auch eine Frau für den Job genommen hätten, wenn sie ihrer Meinung nach die Beste für den Job gewesen wäre. Und nicht so anstrengend. Und auch mal Spaß verträgt.

Ich hab das Grundprinzip verstanden:

Das Stadium, in dem die großen Spiele stattfinden, steht auf dem Mars. 

Wir von der Venus haben uns bemüht, die marsianischen Regeln zu erlernen, wir haben uns bemüht, die Sprache des Mars zu erlernen –  aber wir sind Besucher aus einer fremden Welt. Fremdarbeiter so zu sagen. Wir werden immer einen Akzent haben. Wir werden nie so gute Marsianer sein, wie die Marsianer selbst.

Dafür sind wir aber verdammt gute Venusianer.

Solange wir von der Venus aber keine Aufenthaltsgenehmigung haben, solange wir nicht Bürgerrechte haben, kein Wahlrecht und keinen Zugang zu Gestaltung und Macht, solange es allen egal sein kann, was wir denken oder leisten, sind wir weiter nur der Fleck auf dem Film, in dem der Pilot verschwindet.

Und weil den Piloten und seinen kleinen Freunden der Fleck und seine Meinung so überhaupt nicht interessiert, weil den nur ihr interessiert, Männer, ihr und eure Meinung, deswegen, seid damit großzügig! Gebt ihnen eure Meinung. Sagt nicht „Hihihi“ und „Hohoho“, wenn ihr es nicht meint. Sagt, was ihr wirklich denkt.

Stellt euch einfach vor, es ginge um eure Frau. Oder Tochter. Oder Mutter.

Wir zählen auf euch! Auf Marsianisch. Extra gelernt!

 

 

Frau Fricke wundert sich, ob sie was Einzigartiges verpasst hat

Warum sind alte Menschen so unflexibel? Warum sehen sie nicht die neue Welt, die den Jungen schon klar am Horizont erscheint in all ihrer Macht und Schönheit? Warum sind die so doof? Vielleicht, weil sie nicht alles, was sie zum ersten Mal sehen für neu und aufregend halten. Vielleicht auch, weil sie durch die neuen Schläuche den alten Wein erkennen.

Mit Kaffee hat’s angefangen. Ich stehe vor einem bärtigen Mann, an dem jemand eine schwere Segeltuchschürze mit Lederriemen vertäut hat, als müsse sie einen Sturm überstehen. Eigentlich will ich nur einen Kaffee. Der Mann guckt mich erwartungsvoll an, als käme da noch was. Es kommt nichts. Er zieht die Augenbrauen hoch und steufzt. „So kann ich nicht arbeiten“ soll dieses Seufzen heißen. „Ich brauche hier echt nen Briefing.“ Ich bin verunsichert. Haben wir hier ein sprachliches Problem?

„Äh, Kaffee“ sag ich. „Weißtschon. Heißes Wasser, das durch gemahlene Kaffeebohnen läuft.“ Er sieht durch mich durch. „Lecker.“ sag ich also tapfer und hoffe, dass er damit irgendwas anfangen kann. Und tatsächlich wird er plötzlich munter.

„Oh“, sagt er, „Ja, das haben wir.“ Ich bin nicht überrascht. „Ganz neu. Erst seit ein paar Tagen.“ Jetzt bin ich’s schon. Er dreht sich um und verschwindet kurz. Dann kommt er mit etwas wieder, von dem er sicher ist, dass ich es noch nie gesehen habe. Er hält es triumphierend in die Höhe und ich sehe kurz, was er jetzt sieht: Ein verrücktes Instrument. Ein Ding, das man eher in einem Labor vermuten würde. Den ganz letzten heißen Scheiß.

Der Mann schmeißt ein Gerät an, das tatsächlich aussieht, wie der Bunsenbrenner aus meinem Chemieunterricht und darüber stellt er ein ulkiges Gestell und darauf eine Glasblase mit Wasser. Wir sind definitiv im Chemieunterricht. Während das Wasser seinem Siedepunkt entgegeneilt, greift er in eine Schublade und holt eine winzige Tüte aus dickem braunen Papier heraus. Damit kleidet er das Instrument aus, das er aus dem Hinterzimmer geholt hatte, mahlt Kaffee, füllt das Kaffeemehl ein und hält mir einen kurzen Vortrag über Kaffeearmomen und die ultimative Methode, sie der Bohne zu entreißen. Nämlich diese hier. Er gießt das inzwischen blubbernde Wasser auf. Ein betörender Duft steigt auf.

„Ach“ sag ich, „Das riecht jetzt so nach Sonntag bei Opa. Der hat das auch immer so gemacht.“

Dem Bärtigen fällt fast die Glasblase aus dem Schutzhandschuh. „Das ist aber was ganz Neues.“ sagt er. „Nee“, sag ich, „Das ist Filterkaffee. Da wo ich herkomme, hat man Kaffee früher immer so gemacht. Also jetzt bevor Cappuccino in Mode kam. Und Espressomaschinen und sowas.“ Der Bärtige ist entsetzt. Ich kann nicht sehen, aber erahnen, wie seine Mundwinkel hinter seinem Kinnpelz zusammenfallen. Hinter seinen hohlen Augen sehe ich sein Leben rückwärts vorbeilaufen. Alles, wofür er gelebt hat, verschwindet in diesem Moment durch einen Kaffeefilter, den ich als „poplig“ bezeichnet hätte – bevor ich die Rechnung gesehen hab.

Vielleicht hat er sich abends in einem Akt von Autoaggression einen Nescafe gemacht und leise hinein geweint. Vielleicht hat er aber auch seinem Kummer über die Ignoranz seiner Umwelt in 140 Zeichen Ausdruck verliehen.

Der Häschtäck „diesejungenleute“ würde sich da anbieten.

Da treffen sich junge Leute gewissermaßen um gemeinsam zu beklagen, was noch jede Generation junger Leute vor ihnen beklagt hat: Dass alle ganz gemein sind zu den jungen Leuten. Keiner nimmt sie ernst. Keiner hört ihnen zu. Keiner sieht, dass sie total toll und voll innovativ sind. Und – vielleicht wenigstens ein kleines bisschen neu:

Keiner sieht wir unglaublich einzigartig sie sind, diesejungenleute. Sie selbst und alles, was sie tun. 

Das übrigens, scheint besonders schwer auszuhalten: dass alles schon mal da war. Selbst diese Schwierigkeiten, seinen Platz in der Welt der Etablierten zu finden, ist nicht neu. Das also war der Grund, warum damals der „Fänger im Roggen“ als Klassensatz bestellt wurde!

Nie ist was neu und einzigartig genug. Jedes Mal, wenn diesejungenleute mit glänzenden Augen irgendetwas Neues in die Gesellschaft tragen, gähnen nur alle träge und sagen: „Kennwaschon.“ Denn merke: Nur weil etwas einen Häschtäck hat, ist es noch nicht revolutionär. Und was die urls angeht, die allein machen auch noch keine Innovation. Auch im letzten Jahrtausend gab es schon Kasinos, Mitwohnzentralen, Mitfahrzentralen und Versandhäuser. Es gab Lexika, Wörterbücher, Kinos, Pornos, Banken. Manchmal ist diese Erkenntnis für diesejungenleute ein echter Schock. Leute haben sich unterhalten, sie haben einander geschrieben, sie haben zusammen etwas unternommen und manchmal haben sie zusammen gesessen und sich etwas ausgedacht, das zumindest ihnen neu vorkam. Manchmal hatten sie sogar Erfolg damit. Und es gab Kaffee. Alles nichts Neues.

Es gab auch schon Monopolisten, Kopisten, Firmenzusammenbrüche und Disruption. Sorry. 

Vielleicht sind die Alten da etwas gelassener, weil sie genauso waren, weil auch sie alles superrevolutionär und absolut neu fanden, was sie zum ersten Mal verstanden hatten. Weil auch sie ihre Umgebung damit genervt haben. Weil auch sie ihre Begrenzung nicht erkannt haben. Sie haben die Entwicklungen von Dingen gesehen, die sie für unfehlbar hielten, sie haben gesehen, wie sie im langen Marsch durch die Jahrzehnte abschliffen wurden und die immer selben archaischen Machtstrukturen und Urinstinkte frei legten. Am Ende ging es immer nur um Macht und Geld und den eigenen Vorteil. Und auch das ist weder neu noch einzigartig. Kain und Abel, Jakob und Esau, Josef und seine Brüder könnten ein Hinweis darauf sein.

Blöd gelaufen für die Prinzen und Prinessinnen, die mit „Ganz besonders und einzigartig“ als Motto im Schild aufgewachsen sind. Ich selbst bin ja ein Baby Boomer. Das war ja noch die Schuldigung-dass-ich-da-bin-Generation. Die Hochzeitsgrundkinder, die gelernt haben, dass sie sich jetzt bitte wenigstens im Hintergrund halten möchten, wenn sie ihre Eltern schon mit ihrer Existenz belästigen und sie an der gerade in Mode gekommenen Freien Liebe hindern. Das sind die, von denen es immer zu viele gab. Zu große Klassen, zu wenige Ausbildungsplätze, zu wenige Wohnungen. Das sind die, deren erste Pflicht es war, mit dem Hintergrund zu verschmelzen und nicht weiter aufzufallen. Das wollte unsere Generation ihren Kindern ersparen. Und so entstand die Generation Du-sollst-wissen-das-du-etwas-ganz-Besonderes-bist. Wir haben’s gut gemeint, aber nicht gut gemacht. Denn was uns nicht klar war: Das, wovor wir unsere Kinder unter allen Umständen bewahren wollten, haben wir ihnen so als werkseitig eingebaute Sollbruchstelle mitgeliefert: Das totale Versagen. Hinter der Versicherung, besonders zu sein, lauert auch der Anspruch, es sein zu müssen.

Rein mathematisch kann aber nun mal nicht jeder einzigartig und überragend sein.

Und so bleibt diesenjungenleuten eigentlich nichts weiter übrig, als alles, was sie gerade neu gelernt, neu verstanden oder sich neu angeeignet haben, als einzigartige Erkenntnis und total neue Entwicklung umzudeuten. Wenn eine echte Kulturrevolution ausbleibt, (Sorry, Leute auch die gab’s schon), dann verbiegt man sich eben in Kognitiver Dissonanz, so lange, bis man etwas dahin umdeuten kann, dass es wie ein Vorbote eines leuchtenden neuen Zeitalters aussieht. Verzweifelte Gründer und ihre mittellosen Ausbeuterbuden werden schnell zu Startups umlackiert und holen sich damit einen „Gut gemacht“ und eine Million Venture Capital von der Generation, die ihnen verschweigt, dass sie das eigentlich nur aus nostalgischen Gründen macht.

Es war blöd, diesejungenleute mit der Hypothek zu belasten, etwas Besonderes sein zu müssen. Es ist auch blöd, ihnen jetzt vorzumachen, dass nur sie allein die Welt verstehen. Denn wir haben hier eine Aufgabe, die wir nur im Teamwork bewältigen können. Die Etablierten haben die Erfahrung – ja und manchmal auch die Angst –  die vor Kurzsichtigkeit und übereilten Entschlüssen bewahrt und die Jungen haben den Mut – ja und manchmal auch die Ignoranz – Dinge vorzuschlagen, die die Alten nicht zu denken gewagt hätten. Jeder für sich geht unter. Die einen aus Bewegungslosigkeit. Die anderen mit blindem Aktivismus. Aber zusammen wären wir großartig.

Das setzt allerdings Respekt voraus. Und Demut. Auf beiden Seiten.

Und an genau diesem Respekt lassen es die Alten fehlen, wenn sie nicht bereit sind, sich auf einen Dialog mit diesenjungenleuten einzulassen, sie in Frage zu stellen und ihnen zu erlauben fehlbar zu sein. Das setzt aber voraus, dass man sich die Mühe macht, Thesen zu hinterfragen und sich auch selbst unbequeme Fragen gefallen lässt, anstatt aus Bequemlichkeit, alles zur interessanten einzigartigen ganz und gar neuen Deutungsvariante zu erheben.

Als ich einer dieser jungen Leute war, hatte ich wundervolle Mentoren. Einer davon war Herr Diekmann, ein unwahrscheinlich kluger Handwerker, der es zu einem ausgesprochen florierenden Unternehmen gebracht hatte, das er von seiner neu bezogenen Villa im Nobelviertel der Stadt betrieb. Ich gab seiner Tochter Englisch-Nachhilfe und belehrte ihn beim Mittagessen, zu dem ich jedes Mal eingeladen wurde, dass Herr Diekmann für mich ein Ausbeuter war. Herr Diekmann nickte nicht anerkennend und fand, dass ich da aber mal auf eine ganz wahnsinnig unique Idee gekommen wäre, er erklärte mir detailliert seine Sicht – und er stellte Fragen. Kurz: Herr Diekmann nahm mich ernst. Und das hieß auch, dass er mich nicht mit Blödsinn davon kommen lies. Dafür kann ich ihm gar nicht genug danken. (Vielleicht sollte ich das tatsächlich mal persönlich tun.)

Ich hab viel von Herrn Diekmann gelernt. Und er vielleicht auch ein bisschen von mir. Ich weiß es nicht. Ist auch egal. Wichtig ist, dass Herr Diekmann nicht von mir erwartet hat, zu verstehen, dass ich nicht alles verstehe. Er hat auch nicht von mir erwartet einzigartig zu sein und die Welt zu revolutionieren. Er hat einfach nur erwartet, dass ich ihm denselben Respekt entgegenbringe, den er mir entgegen zu bringen bereit war. Und ein Teil dieses Respekts war, dass er mir nicht vorgemacht hat, ich wäre mehr als ich war. Ein Teil dieses Respekts war auch, dass ich wusste, dass er mich trotzdem schätzt. Einfach dafür, dass ich ich war. Wenn ich irgendwas von Herr Diekmann gelernt habe, dann, dass ich gar nicht Besonders sein muss, um wichtig zu sein. Kein Gründer, kein Influencer, keiner, der den Filterkaffee neu erfunden hat. Einfach nur ich.

Vielleicht war das meine Kulturrevolution.

 

Frau Fricke wundert sich über Diener

„Ein Fürst ist der Erste Diener des Staates.“ soll Friedrich II von Preussen gesagt haben. Als Greis musste er sich auf einen Stock stützen. Ein krummes Häkchen, niedergedrückt von einer übermächtigen Verantwortung. Will man das?

Oprah will, obwohl sie weiß, dass sie es nicht kann. Was Trump weiß oder kann, weiß oder kann inzwischen niemand mehr sagen. Aber dass er nicht kann, das wissen wir. Und Lindner wollte nicht mehr, als er konnte – was eher selten ist denn eigentlich will immer jeder der Bestimmer sein.

Man fragt sich, warum eigentlich. Bestimmen ist ja ganz schön schwer. Und man lenkt ja nicht nur die eigenen Geschicke, sondern die vieler Menschen, die von einem abhängig sind – oder sich abhängig fühlen. Und die wenigsten Menschen mögen dieses Gefühl von Abhängigkeit. Dafür ahnen sie aber diffus, dass es die Bestimmer sind, die dieses Gefühl auslösen, und erlauben sich daher im Gegenzug den Luxus, Bestimmer abgrundtief abzulehnen. Völlig egal warum. Wer Bestimmer ist, dem muss klar sein, dass er das Gesicht ist, das man bei Wikipedia neben dem Begriff „Dagegen sein“ sehen wird. Dass er von genau den Leuten gehasst wird, deren Gehälter er in einer Krise sichert, während er selbst wochenlang auf Aldi-Toastbrot kaut.

Warum sollte das jemand wollen? Sind die alle irre?

Meine Vermutung ist: Das alles ist eine Verkettung schrecklicher Missverständnisse. Und die beginnt mit einer krassen Missinterpretation des Wortes „Führung“ wie in „Personalführung“, „Amtsführung“ oder „Führungsposition“. Das kommt davon, wenn man in Geschichte nicht aufgepasst hat und von Marie Antoinette nur weiß, dass sie echt coole Klamotten hatte und eine Schwäche für Brioche. Dabei könnte man gerade von ihr lernen, wie unerfreulich Karrieren an der Spitze enden können, wenn man keine überzeugende Führungspersönlichkeit ist und auch nicht vorhat, es zu werden.

Um ihrem Schicksal zu entgehen, wäre es also ganz wichtig, zu verstehen, dass folgende weit verbreitete Annahmen Irrtümer sind:

 

Irrtum Nr. 1: Führung ist, was von allein passiert, wenn alle einem nachlaufen müssen.

Wenn man vorne ist, sagt einem keiner, dass man hinten liegt.

Wer mit Kritik nicht gut umgehen, wer schlecht zwischen sich und der Sache unterscheiden kann, der hält das für eine gute Nachricht. Die schlechte Nachricht ist aber, dass das tatsächlich die schlechte Nachricht ist. Denn Kritikfähigkeit, die Fähigkeit, Rat anzunehmen, eine bessere Idee als besser zu erkennen und umzusetzen, auch wenn sie nicht die eigene war, ist eine der kritischsten Eigenschaften einer Führungspersönlichkeit. Überall sonst ergibt das für jeden sofort einen Sinn. Keiner würde das Angebot abschlagen, eine miese Souterrain Wohnung gegen eine mit Dachterrasse zu tauschen, einen Wollpulli gegen einen aus Cashmere, eine Schrottkarre gegen einen Neuwagen. Nur bei Ideen scheint das echt schwer zu sein. So schwer, dass sich manche einfach in die Illusion flüchten, praktisch jede Idee, die sie je gehört haben, wäre von ihnen – außer natürlich sie stellt sich später als Irrtum heraus. Dann ist man schlecht beraten worden.

Wer erster Diener ist, dem wird der Umgang mit Kritik leichter fallen, denn es geht nicht um ihn selbst. Es gibt etwas, dem er dient. Etwas, das größer ist, als er. Dem Staat, der Sache, der Firma. Schwieriger wird das natürlich für die Sonnenkönige unter den Chefs und die unterliegen dem zweiten Missverständnis:

 

Irrtum Nr.2: Untergebene sind die, die unten stehen und geben. 

Ein Missverständnis biblischen Ausmaßes! „Macht euch die Erde Untertan“ wurde vielfach missinterpretiert als „Macht mit der Erde, was ihr wollt. Die kann sich sowieso nicht wehren.“ Sowas ist ja immer ein Irrtum. Jeder hat Macht. Nur nicht alle dieselbe und zur selben Zeit. Aber das wird jetzt zu kompliziert. Kommen wir auf den Untertan zurück.

Wenn man sich das Wort mal richtig ansieht, stellt man fest: Das kuschelt sich in das Bauchfell eines Größeren und flüstert leise herauf: „Ich bin klein, mein Herz ist rein, sollst gut auf mich aufpassen, sonst muss ich schreien.“ Wer kleiner ist als wir, wer uns also untersteht, wer uns unterstellt ist, untertan ist, ist jemand, auf den wir aufpassen sollen. Für dessen Wohlergehen wir verantwortlich sind. Niemals hat je ein Elternpaar das Haus verlassen und zum großen Geschwister gesagt: „Wir sind dann mal weg. Jetzt bist du der Herr im Haus. Also: immer druff. Versklav die kleinen Racker – denn du kannst das und die können sich nicht wehren.“ Nein, Eltern erwarten von den Großen, dass sie auf die Kleinen aufpassen, ihnen vorlesen, ihre Launen ertragen, sie trösten, wenn sie weinen, die Mikrowelle für sie bedienen und klaglos die Trickfilme gucken, die die Kleinen eben gucken wollen. Vor allem aber, sollen die Großen die Knirpse vor Schaden bewahren –  auch wenn die Knirpse das nicht wollen, weil sie gerade die Streichhölzer gefunden oder das Scherengitter am Treppenaufgang geöffnet haben. Weil das eben das ist, was man so tut als führendes Familienmitglied: Beispiel, Liebe und nein sagen.

Das mit dem Unten stehen und geben verhält sich also eher umgekehrt. Und auch das könnte man aus dem Geschichtsunterricht wissen, wenn man besser aufgepasst hätte, als es darum ging,  was „L’etat c’est moi“ – der Staat bin ich – tatsächlich bedeutete für Ludwig der XIV von Frankreich, das Sinnbild des Autokraten, den Sonnenkönig.

Von morgens bis abends war Ludwig nicht Mensch, er war Staat und gehörte damit nicht sich selbst, sondern allen, die wollten, was er hatte: Macht. Nur, indem er die teilte, herrschte er. Nichts, wirklich gar nichts bestimmte er nach seinem persönlichen Gusto. Wie er schlief, wann er schlief, mit wem, was er anhatte, wer Zugang zu seinen Räumlichkeiten hatte, wer ihm was anziehen, anreichen, antragen durfte, alles war vorbestimmt – und zwar nicht durch ihn. Alles diente einem höheren Ziel, einer höheren Macht und diese Macht war nicht seine Person. Diese Macht war Frankreich. Ein Frankreich – machen wir uns nichts vor – das nicht das Frankreich der Bürger war, sondern einer dünnen Upper Crust, an deren Wohlergehen sich der Rest des Landes orientierte.

 

Was hat man denn dann davon, Chef zu sein? Die Antwort ist: Verantwortung.

Und die Verantwortung – auch das ein weit verbreiteter Irrtum – ist nicht etwa der Titel auf der Visitenkarte oder der Grund für eine Gehaltserhöhung. Verantwortung heißt, dass man dafür Sorge trägt, dass es allen gut geht. Dass ein Schiff heil in den Hafen kommt. Dass sich in einem Unternehmen alle gut und sicher fühlen. Dass sich eine Regierung am Wohl ihrer Bürger orientiert.

Ja, blöd gelaufen. Chef sein, egal, ob Staatschef, Firmenchef oder Küchenchef, das heißt nicht, der mit dem coolen Krönchen auf dem Kopf zu sein. Der, der bejubelt wird, der mit der dicken Marie. Chef sein, das heißt Sicherheit zu geben. Durch klare Ansagen, durch Berechenbarkeit und Nahbarkeit. Dadurch, dass man anerkennt, dass das, was man tut größer ist, als der, der man ist.

Ich weiß nicht, ob Chef zu sein immer noch so attraktiv wäre für Oprah, für Trump, für die vielen Erben, die demnächst frisch von einer privaten Business School kommend die Verantwortung für Firmen mit Tausenden von Mitarbeitern übernehmen werden, wenn sie verstanden hätten, dass es die natürliche Eigenschaft von Autorität ist, nicht eingefordert werden zu können, sondern verdient werden zu müssen. Verdienen. Dienen. Da ist es wieder.

Es würde mich also nicht wundern, wenn es stimmt, was man immer wieder liest: Dass Millanials Führungspositionen fürchten. Dass sie keine Verantwortung mehr übernehmen wollen. Dass sie lieber auf dem Rücksitz sitzen wollen, als am Steuer. Da könnte es natürlich über kurz oder lang eng werden.

Vielleicht sind die aber auch gar nicht die Generation der Schlaffis.

Vielleicht sind die die Generation derer die verstanden haben, dass das Wort „Verdienst“ von „dienen“ kommt – und es etwas substanziell anderes ausdrückt als das Wort „Einkommen“.

Frau Fricke wundert sich über geteiltes Leid

Geteiltes Leid, so sagt man, sei ja halbes Leid. Ob das wohl der Grund ist, warum sich Leute plötzlich Leid zu Eigen machen, das gar nicht das eigene ist?

Neulich hatte ich Besuch. Die Bekannte einer Freundin, die mir selbst zunächst nicht bekannt war, kam zum Tee und wollte Näheres über die politische Situation in Katalonien wissen. Sie ist Journalistin und da ist es ja ein hehres Ziel, möglichst viele Leute nach ihrer Sicht der Dinge zu befragen – vor allem, wenn die politische Situation so vertrackt und vielschichtig ist, wie die hier.

Wir sitzen. Wir trinken Tee. Sie fragt. Ich antworte. Und nebenbei erwähnt sie, dass ihr Mann später auch noch käme. Der sei ja Katalane. Also jetzt im Herzen. Nicht in echt.

Ich erstarre einen Augenblick, denn ich ahne, was mich da erwartet. Die absolut eifrigste Verfechterin der katalanischen Sache, die ich kenne, ist nämlich auch eher Katalanin im Herzen, heißt Karin und wohnt in der Nähe von Düsseldorf. Gelegentlich macht sie Urlaub in einem Gebiet, das ihrer Auskunft nach so etwas wie das europäische Afghanistan ist, wo freie Rede unbekannt ist, wo man nicht wählen darf und wo man quasi unter Fremdherrschaft einer Monarchie steht, die man bis ins Mark ablehnt. Dieses Volk, mit dem sich Karin aus mir nicht gänzlich nachvollziehbaren Gründen eins fühlt, erleidet Unterdrückung und Verfolgung und die beginnt bei dem für sie offensichtlichen Versuch, die katalanische Sprache auszumerzen. Aber da hat man natürlich nicht mit Karin gerechnet. Karin spricht Catalan – mit einem so deutschen Akzent, dass man es bei flüchtigen Hinhören für Tschechisch halten könnte, aber – bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Als wir einmal eine Führung im Museum besuchten, bestand Karin darauf, dass die auf Catalan durchgeführt wurde, obwohl zwei Touristinnen aus Segovia und ich kein Catalan sprechen. „Pech“, sagte Karin zu denen mit ausgesprochen angekränkelten Brustton „wir sind nun mal in Katalonien. Ob es euch passt oder nicht.“ Der große Vortrag aber ist ihnen erspart geblieben. Der Vortrag, in dem man erfährt, welch bitteres Unrecht Menschen geschieht, die in Katalonien zu leben gezwungen sind. Karin selbst wäre dazu auch gern gezwungen, muss aber im regnerischen Ratingen ausharren. Blöd gelaufen.  Als ich sie das letzte Mal sah, trug sie ein T-Shirt der separatistischen Bewegung. Darauf ist ein Männlein zu sehen, dass Tränen lacht und sich dabei vergnügt auf die Schenkel haut. „Ich soll Spanier sein? sagt der Text dazu. „Ist ja lächerlich!“  Ich zeige auf das T-Shirt und sage: „Dir ist jetzt schon klar, dass das überhaupt keinen Sinn ergibt, wenn du es trägst, oder?“ Das war ihr tatsächlich nicht wirklich klar und nachdem ich ihr erkläre, dass in ihrem T-Shirt ganz unzweifelhaft keine Spanierin steckt, sondern eine Deutsche, die dadurch auch nicht zur Katalanin wird, hatte sie es plötzlich eilig und entfreundet mich alsbald auf Facebook. Mit Leuten, die sich derart unkatalanischer Umtriebe befleißigen, kann sie natürlich keinen Umgang pflegen. Das sehe ich ein. Und so in einer Villa in Ratingen lebt es sich bestimmt angenehmer mit einem „freien Katalonien“, in dem die Bürger ihre Rentenansprüche und ihren freien Zugang zur EU verloren haben, als sagen wir mal in Barcelona. Auch das ist mir klar. Was mir nicht klar ist: Warum macht sich Karin zum Stellvertreter einer katalanischer Indignation an der sie de facto gar keinen Anteil hat?

Wieso ist Rachel Dolezal schwarz?

Rachel Dolezal war bis 2015 die Präsidentin der National Association for the Advancement of Colored People (NAACP) ihres Wohnbezirks, einer schwarzen Bürgerrechtsbewegung. Sie war auch Ombudsfrau der Polizei in Sachen Umgang mit Farbigen. Und sie war Lehrbeauftragte für afrikanische und afroamerikanische Studien an der Eastern Washington University.  In diesem Amt fiel sie mehrfach dadurch auf, dass sie Studenten, von denen sie fand, dass sie keinen so farbigen Eindruck machten, wie sie es für erforderlich hielt, der Vorlesung verwies, weil sie der Argumentation einer echten schwarzen Frau ohnedies nicht folgen könnten, weil sie nie ergründen könnten, was Diskriminierung wirklich bedeutet, weil sie eben einfach nicht schwarz waren.

Blöd ist: das haben sie mit Rachel Dolezal gemein. Ihre Eltern sind deutscher und tschechischer Abkunft und so weiß wie ein Toastbrot.

Grundsätzlich, da möchte ich jetzt wohl verstanden werden, ist gar nichts dagegen einzuwenden, wenn sich Experten zu einem Thema äußern, dass sie nur theoretisch kennen. Es gibt Themen, bei denen ich das sogar durchaus begrüßen würde, wie z.B. jedwede Form der Kriminologie oder bei Studien, die sich mit Missbrauch jedweder Art beschäftigen. Warum also hat Rachel Dolezal Tabletten geschluckt, um dunkler zu werden, sich eine Dauerwelle machen lassen, mit der sie aussieht wie Side Show Bob und warum hat sie Leute, die so waren wie sie aus ihrer Vorlesung geworfen? Warum hat sie einen Zustand hergestellt, dessen Opfer zu sein sie dann lautstark beklagt hat?

Aufgeflogen ist die Sache, als sie das Foto eines Schwarzen als das ihres Vaters auf Facebook eingestellt hat. Das war zu viel für ihren echten Vater. Er ging an die Öffentlichkeit. In einem sehr peinlichen Interview redete sich Rachel Dolezal raus. Ihre Erklärung ist, dass sie sich schon immer schwarz gefühlt hat. Sie beschrieb sich wörtlich als eine „transracial Caitlyn Jenner“, so etwas wie Transgender in Hautfarbe eben.

Sie beschrieb sich auch als Opfer physischer Gewalt durch ihre Eltern – was diese bestreiten. Als Opfer sexuellen Missbrauchs durch ihren Ehemann, der sie zum Dreh eines Sexvideos gezwungen habe – was nie aufgefunden werden konnte. Eigentlich eben als Opfer mal so ganz im allgemeinen, das sich einen triftigen Grund für sein Opfer-sein erst noch suchen muss.

Das ist derart abstoßend tatsächlichen Opfern gegenüber, die sich eben leider nicht aussuchen können, ob sie Opfer sein wollen, dass es mir den Atem verschlägt.

Inzwischen ist der Herzenskatalane eingetroffen

Ich biete ihm Tee an. Die erste Tasse nimmt er auch noch, denn da weiß er noch nicht, was ich für eine bin. Er findet das alles wahnsinnig aufregend, was da draußen passiert und freut sich, dass das bittere Unrecht, dass dem katalanischen Volk geschieht, nun endlich ein Ende hat. Ich frage freundlich nach, worin das bestünde. Er verweist auf die Unterdrückung der katalanischen Sprache. Ich verweise darauf, dass seit einigen Jahren Amtsschreiben überhaupt nur noch auf Catalan kommen. Genau genommen wird hier eher die spanische Sprache unterdrückt. Es ist ihm anzumerken, dass er dieses Argument als persönliche Beleidigung empfindet. Ich verweise auch darauf, dass der Schulunterricht hier auf Catalan stattfindet und Freunde von mir, die mit zwei schulpflichtigen Töchtern aus Madrid zugezogen sind, ihre Töchter hier auf teure Privatschulen schicken müssen, auf denen Spanisch gesprochen wird. Die meisten katalanischen Politiker machen das übrigens auch. Der Herzenskatalane mag mich nicht. Mich nicht und meine blöden Argumente nicht. Außerdem darf hier keiner wählen, sagt er. Ich erwähne, dass es in den Jahren, in denen ich hier wohne jedes zweite Jahr eine Wahl gegeben hat und mehrere ungestört abgelaufene inoffizielle Referenden. Das war nicht das, was er hören wollte und als ich ihn frage, ob er vielleicht eins der katalanischen Schreiben sehen möchte, verschränkt er die Arme vor dem Bauch und sagt, es sei vielleicht besser, wir würden nicht mehr darüber reden. Er sagt das, als sei er ein Opfer und ist von da an damit beschäftigt, an mir vorbei zu schauen und demonstrativ zu schweigen. Weitere Angebote von Tee lehnt er mit einem Kopfschütteln und einem Blick, der Schiffe versenken könnte, ab. Als ich ihn frage, ob er vielleicht ein Glas Wasser möchte, starrt er an mir vorbei als sei er auf einer Mission: „Ich weiß genau, was du hier abziehst, Puppe. Aber du und dein Wasser, ihr werdet mich nicht dazu bringen, die Partisanenlager im Hinterland zu verraten.“ Es gibt keine. Genauso wenig wie Unterdrückung, Diskriminierung oder Unterjochung von Katalanen. Genauso wenig wie Rachel Dolezal schwarz ist. Aber er sitz. Er starrt. Er lehnt ab. Ein Rebel without a cause.

Es gibt zwar keine Sache, aber er ist entschlossen, sie zu verteidigen.

Denn selbst, wenn es eine Sache gäbe, wäre es seine Sache nicht.

Aber offenbar ist es jetzt meine. Denn während der Herzenskatalane sein Herz wieder dahin zurück bringt, wo er warm und trocken in der Sicherheit eines wohl geordneten Sozialstaats lebt, bleibe ich zurück in der Stadt, die beflaggt ist, wie Berlin 1933. Wo ich Populismus aushalten muss, inhaltsfreie Debatten und die Konsequenzen, die dieser Unsinn mit sich bringt. Ich bleibe zurück und räume den Tisch ab für die Indignierten. Die Wassergläser. Die Teetassen. Das Gebäck. Die Blumen des Bösen.

 

Frau Fricke wundert sich, wann sich aus Teilen ein Ganzes ergibt

Wäre St. Martin der Schutzheilige der Sharing Economy, dann ginge die Geschichte so: Ritter trifft auf Bettler, teilt seinen Mantel, lässt den Bettler zwei Drittel des Mantels bezahlen und zahlt dem Jungen, der ihm den Bettler gezeigt hat 10% Provision. 

Ich gewöhne mich langsam daran, dass mir jeden Tag irgendetwas, das wirklich mal so richtig Schnee von gestern ist als der ganz heiße Scheiß von heute angedreht wird. Wenn ich ganz ehrlich bin, dann bin ich hin und hergerissen zwischen: „Ihr seid doch wohl nicht ganz dicht.“ und „Alter, die haben’s aber drauf, was, das immer schon da war, für sich zu reklamieren.“ Letztlich kommt man vermutlich nur so zu was. Wasser und Land waren ja auch schon da, bevor irgendwer auf die Idee kam, sein Namensschild dran zu hängen. Trotzdem wundert mich eine Sache ganz besonders: Die „Sharing Economy“. Und mit der Wortschöpfung geht’s schon los.

No Sharing lots of Economy

In keiner Form legaler Ökonomie wird nämlich so wenig geteilt wie in der Sharing Economy. Wenn ich mir ein Taxi rufe, shared der Taxifahrer nicht nur für eine festgesetzte Dauer sein Fahrzeug mit mir, er shared auch vom daraus erwachsenen Profit die Steuern mit der Allgemeinheit. Das ist bei Uber mehrheitlich nicht so.

Miete ich mich in einem Hotel ein, shared der Hotelier neben Steuern und Abgaben auch vorschriftsmäßige Sicherheitssysteme mit mir oder einen Versicherungsschutz im Fall, das irgendwas passiert. Der Airbnb-Vermieter shared, wenn ich Pech habe, nicht einmal die Information, dass er just zu der Zeit, in der ich mich eingemietet habe, umziehen wird. Mit allergrößter Sicherheit aber shared er nicht seinen Verdienst und der kann erklecklich sein.

Letztes Jahr war ich zum ersten Mal auf Ibiza. Ein Freund hat mich eingeladen und uns in so einem Airbnb-Appartment untergebracht. Am Flughafen erwartete uns der Vermieter und auf der Fahrt kamen wir so ins Plaudern. Ob das die einzige Wohnung sei, die er vermietet, frage ich ihn. Ne, er habe vierzig. VIERZIG. Vier Null. 40!

Ich war erstaunt, denn der Mann ist erst vor 10 Jahren auf die Insel gekommen sagt er. Ja, sagt er, das sei so, erst habe er auf dem Bau gearbeitet und daher gewusst, wo Wohnung zu haben waren. Das war noch zu der Zeit, wo jeder Depp, der vor der Bank lang hinfiel mit einer Hypothek in der Tasche wieder aufstand. Damals hat er die erste gekauft und vermietet und vom Verdienst die zweite. Dann wurden die Gesetze verschärft und eigentlich wollte er die Wohnungen da anmelden, aber auf Ibiza sei so ein Vermietungsstopp verhängt worden.Da ging das natürlich nicht mehr. Und wer eine Wohnung nicht anmelden kann, der kann auch keine Steuern dafür zahlen. Ist ja nun nicht seine Schuld, findet er. Und das Geld muss ja irgendwo hin. Also hat er davon neue Wohnungen gekauft, die er auch alle nicht anmelden kann, weil ja… Wir kennen das Prinzip. Mir blieb der Mund offen stehen. Das also ist Sharing Economy. Der Economy-Teil ist mir klar. Wo ist das Sharing?

Greed without Need

Früher gabs ja auch schon Mitfahrzentralen, es gab Mitwohnzentralen, es gab Flohmärkte und Kuchenbasars. Kurz: All die physischen Vorgänger von Uber, BlaBlaCar, Airbnb, Ebay, Eatwith und vergleichbaren Plattformen. Und auch damals hat keiner Steuern bezahlt, wenn er jemanden von seinem Studienort Göttingen bis zum Wohnort seiner Eltern in Oberammergau mitnahm, ganz einfach, weil es keinen Zugewinn gab. Gewöhnlich wurden die Spritkosten durch die Anzahl der Mitfahrer geteilt (plus eine Mini-Vermittlungsgebühr). Wer über die Mitwohnzentrale sein WG-Zimmer vermietete, während er sich selbst in Goa suchte, hat das Zimmer gewöhnlich zu dem Preis vermietet, den er auch selbst gezahlt hat – plus vielleicht 10% für die Reisekasse. Ich weiß das sicher, denn früher habe ich meine gesamte Wohnung für die Zeit vermietet, in denen ich auf Reisen war. Anders hätte ich mir das gar nicht leisten können, denn ich hab für den Preis vermietet, den ich selbst als Miete gezahlt habe. Vollausstattung gabs so zu sagen umsonst. Ich hatte da nichts zu versteuern. Was als Verdienst reinkam, ging als Miete raus. Es war nicht üblich, seine Miete zu verdreifachen – einfach nur, weil man konnte und keiner guckte.

In den old school sharing economies haben die geteilt, die sonst nicht genug gehabt hätten – für eine Zugfahrt nach Hause, für einen Urlaub, für irgendwas, was ihm wichtig war. Das Teilen stand im Vordergrund. Wegen mir hat ein Paar, eine schöne Wohnung gehabt, nachdem ihre abgebrannt war und renoviert werden musste. War nicht ihre Schuld, wie sie nicht müde wurden zu betonen. Das war bei Bauarbeiten passiert. Die beiden hießen übrigens – true story! – Brendel und Feuerle. Aber ich schweife ab. Also, ich hab denen meine Wohnung vermietet, was die irrsinnig gefreut hat. Und ich, ich konnte 3 Monate im Süden überwintern, was mich irrsinnig gefreut hat. Später haben wir auch Adressen geteilt und Erfahrungen und wir haben uns gegenseitig besucht. Das war nett. Das war Sharing.

Heute hat die Betonung auf „Economy“ gewechselt und damit auch das Publikum. Wie immer, wenn es was zu holen gibt, treten die auf den Plan, die davon gar nicht genug haben können. Die, die sich lieber 40 Wohnungen von ihren Einnahmen kaufen, als Steuern zu zahlen. Die, die schon die Mittel haben, die halbe Innenstadt aufzukaufen, aber finden, das „mehr“ immer besser ist als „viel“.  In der Share Economy findet die Verteilung also wieder von unten nach oben statt. Und das ist schade.

Sharing is caring

Schade auch, weil keiner die Verantwortung übernimmt. Anbieter finden, dass sie nur die ihnen gebotenen Möglichkeiten nutzen. Die Vermittlungsplattformen sehen sich selbst nur als das willenlose Gefäß, in dem Andere ihre üblen Machenschaften anrühren. Damit, finden sie, haben sie nichts zu tun.

Nicht mit der Entvölkerung der Innenstädte durch Touristenwohnungen, nicht mit dem massiven Steuerausfällen und auch nicht damit, dass ehrliche, steuerzahlende Tourismus-Betriebe Leute entlassen müssen, weil sie ihre Preise gegen steuerhinterziehende Anbieter ohne Personal positionieren müssen. Jeder schaut nur bis zu seinem eigenen Nabel, denn hey, zwischen uns und unserem Gewinn steht nur eine Maschine und die urteilt nicht.

Tatsächlich ist die Sharing Economy das Gegenteil dessen, was das Wort nahelegt. Sie ist eine Economy, in der keiner mehr was umsonst kriegt. Geteilt wird nix. Jeder ist sein eigener hard boiled Gordon Gekko. Und ich hoffe sehr, dass sich diese Denke nicht noch mehr in unseren Alltag ausbreitet. Ich will weiter Freunde in meinem Gästezimmer übernachten lassen ohne die dumme Nuss zu sein, die zu blöd ist, eine Rechnung auszustellen. Ich will weiter meine Freunde bekochen und mich allein der Kalkulation der Portionsgrößen widmen müssen und ich will mich weiter einfach nur freuen können, wenn ich irgendwo anreise und mir meine Freunde schon mein Bettchen gemacht haben, mein Lieblingsessen gekocht und den Ofen an.

All denen, die jetzt genau wissen, dass sie gemeint sind: Thanks for Sharing!