Ich hab Pech. Zeimlich oft. Ich bin die, deren Flugticket einfach so storniert wird, ohne dass jemand weiß warum, die, bei der immer die Bonrolle ausgewechselt werden muss und die, auf deren nagelneuer Mantel ein Vogel scheißt. Heute hab ich Pech mit der Bahn. Ich habe eine Fahrkarte gekauft für einen Zug, der von Barcelona nach Lyon fährt und noch eine zweite für einen Zug von Lyon nach Dijon. Das war vor dem Streik.
Und weil ich noch nicht weiß, dass der Zug gar nicht fährt, stehe ich um 6.00 auf. Das ist deswegen bemerkenswert, weil ich erst um 2.00 eingeschlafen bin und mich fühle, als hätte mir jemand eine Plastiktüte über den Kopf gezogen. Weil ich es trotzdem schaffe, mich zu vertrödeln, jage ich mit dem Taxi zum Bahnhof, renne ans Gate (ja, hier gibt es Gates für Fernzüge) werfe meinen Koffer aufs Kontrollband, zerre ihn wieder runter, renne weiter an den Schalter, bemerke, dass ich meine Tasche am Kontrollband vergessen habe, renne wieder zurück, picke meine Tasche auf, renne wieder zurück zum Schalter – und werde gebeten zu warten.
Ich warte immer noch, als der Zug schon abgefahren sein soll. Ich ahne: Das heißt nichts Gutes. Tatsächlich kommt bald eine Dame in Uniform auf uns Wartende zu und erklärt erst auf Französisch – ich verstehe nur Bahnhof – und dann auf Spanisch, dass der Zug nicht fahren wird. Der wird bestreikt. Ach.
Wir sollen uns aber keine Sorgen machen, sagt die Dame in Uniform. Wir werden alle umgebucht – nach Paris. Das ist bestimmt eine super Nachricht für alle, die auf dem Weg in ein romantisches Wochenende bei ihrer Tante Clotilde auf dem Dorf sind, weil für eine weitere Fahrt das Geld nicht gereicht hat. Ich bin auf dem Weg nach Dijon – und das ist nicht mal in der Nähe von Paris. Ich soll mir aber, sagt die Dame in Uniform, auch darüber keine Sorgen machen, denn mit unseren Tickets können wir lustig in Frankreich rumgurken, wie es uns gefällt. Die französischen Kollegen seien im Bilde über den Streik. Nur die Sitzplatz-Reservierungen seien perdu.
Ich überlege kurz, ob das jetzt nicht DIE Gelegenheit ist, endlich mal alle Loire-Schlösser abzuklappern. Aber ich hab zu tun in Dijon. Gesellschaftliche Verpflichtungen so zu sagen. Während ich mir noch dabei zuhöre, wie ich der Dame in Uniform die Dringlichkeit des Einhaltens meiner Reiseroute klarzumachen versuche, hat mein Ein-Frau-Unterstützer-Team schon verschiedene alternative Lösungen erarbeitet und auf mein Handy geschickt. Ich fühle mich wie Jane Bond. Ich warte kaum eine Stunde, dann hab ich einen neuen Platz in einem neuen Zug – für die ersten zwei Stunden. Dann muss ich umsteigen.
Bei Zug Nr. 2 marschiere ich schnurgerade auf den Schaffner zu und sage ihm in perlendem Französisch, dass ich kein Französisch kann. Macht nichts, er kann Englisch. Kann er wirklich. Ja, sagt er, ich soll mal mitfahren und soll mich einfach dahin setzen, wo was frei ist. Das sei gewöhnlich im letzten Wagon der Fall.
Dorthin eile ich. Der Koffer scheppert neben mir. Das Abteil, in das ich komme, ist maximal abgerockt und seit Dekaden nicht mehr geputz worden. Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass man das Wetter durch die Scheiben nur erahnen kann. Und die Tatsache, dass das hier zur Erwähnung kommt, zeigt schon: I am not amused.
Aber ich hab einen Platz und mein Koffer auch. Für 3 Stunden. Dann muss ich wieder umsteigen. Das finde ich jetzt schon ätzend, denn eigentlich will ich jetzt ein Nickerchen machen ohne zu fürchten, meinen nächsten Anschluss zu verpassen.
Noch viel ätzender finden die vier Damen die Situation, die jetzt hereingestürzt komen, weil sie offenbar schon seit der letzten Station einen Sitzplatz suchen, aber nicht gefunden haben. Eine der Damen stürmt auf mich zu und fragt mich auf Französisch, ob ich eine Sitzplatzreservierung hätte. Ich antworte mit dem einzigen Satz, den ich auf Französisch kann, dass ich kein Französisch kann. Darauf fragt sie mich noch einmal in dem, was sie für Englisch hält und ich sage nein und frage, ob ich mich umsetzen soll. Das versteht sie aber nicht. Statt dessen fängt sie an, mich anzukeifen. Das heißt, eigentlich nicht mich, sondern den Sitzplatzinhaber, den ich verkörpere. Nur der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass es zu diesem Zeitpunkt um mich herum noch jede Menge freie abgeschrabbelte Plätze gibt. Aber eben keine Garantien. Und so quillt es auf Französisch aus ihr heraus: Sie habe ein Ticket mit Reservierung gebucht und dann hätten die einfach gestreikt und nun müsse sie anders fahren und hätte nicht einmal die Garantie auf einen Sitzplatz und wenn sie sich jetzt hinsetzt, dann müsse sie für jeden Kreti und Pleti mit einer Platzkarte aufstehen und wofür bitte schön bucht man sich denn einen Platz in der Ersten Klasse, wenn man hinterher nicht einmal… und überhaupt sei sie völlig mit den Nerven am Ende und dann kann man nicht mal mit jemandem reden, weil ja heute offenbar kein Mensch mehr Französisch spricht. Ich zucke die Achseln, um deutlich zu machen, dass ich totsicher jemand bin, mit dem sie nicht reden kann. Und dann gucke ich sehr angestrengt auf mein Handy.
Beim nächsten Halt kommt ein junger Mann hereingestürzt, spricht mich mit „Madame“ an und sagt, ich müsse meinen Platz frei machen. Dann stürzt er wieder raus. Na der traut sich was! Aber dann kommt er wieder rein – in Begleitung einer anderen Madame und eines Gefährts, das jeden Delorean wie einen Tretroller aussehn lässt: ein Hightech-Rollstuhl. Darin sitzt: Ein Mann von kaum 50 Jahren. Weil seine Füße am Rollstuhl festgebunden sind und seine Hände wie tote Tauben auf Armlehnen liegen, die aussehen, als wären sie riesige Löffel aus Bakelit, ahne ich: Der Mann ist minimal vom Hals abwärts paraplektisch. Während ich auf dem Platz gegenüber Stellung beziehe, gelingt es mir einen Blick auf den Rollstuhl zuwerfen, ein Geschoss mit jeder Menge Steuerungselektronik ist, die sich über zwei Halme mit dem Mund bedienen und über einen kleinen Monitor kontrollieren läßt. Der junge Mann, der mich eben vertrieben hat, parkt dieses Wunderwerk,wünscht artig einen schönen Tag und trollt sich. Die Madame hingegen richtet sich auf dem Platz ein, auf dem ich vorher gesessen hatte, denn von dort sitzt sie dem Platz gegenüber, den jetzt der Rollstuhl einnimmt.
An dieser Stelle denke sogar ich: Alles klar, ich hab’s verstanden, man wollte mir hier nur mal zeigen, was ein wirkliches Problem ist und dass mehrmaliges Umsteigen weniger dazu gehört, als die vollkommene physische Unfähigkeit, dazu.
Und ich sollte ich mich irren.
Tatsächlich fangen Madame auf dem Sitzplatz und Monsieur im High-Tech-Rollstuhl nämlich an, es sich nett zu machen. Sie plaudern, sie scherzen, sie schauen einander verschmitzt an – oder auch nicht, weil beide was Besseres zu tun haben. In jedem Fall aber herrscht zwischen ihnen nicht nur eine selbstverständliche Vertrautheit, die beiden strahlen echtes Glück aus. „Hier mit dir“, strahlt es bis zu mir herüber aus, „ist es am allerschönsten. „Madame wickelt ein Picknick aus und plaudert lustig weiter, während sie Monsier die Wasserflasche anreicht und den Trinkhalm zurechtrückt. Als sie ihm eine Stulle hinhält, hat er noch nicht richtig abgebissen, als sie die Stulle schon wieder zurückzieht und so baumelt ihm ein Stück Kochschinken aus dem Mund. Das finden beide irre komisch. Ich fange gerade an, zu denken:“Die haben aber ein Glück!“ da fällt mir ein, dass vom Hals abwärts gelähmt zu sein, gewöhnlich nicht auf Listen auftaucht, die Wege zum ewigen Glück beschreiben. Ebenso verhält es sich vermutlich mit der Vollpflege eines paraplektischen Geliebten. Aber die beiden, die sind glücklich. Darauf muss ich leider bestehen – ebenso wie die Dame ohne Platzkarte auf ihrem Unglück besteht.
An der Endstation jammert sie: Na, Gott sei Dank, sei niemand gekommen, um ihren Platz einzunehmen, aber nun müsse sie ja noch einmal umsteigen und wer weiß wie das dann wird. Sie ist schon völlig fertig, wenn sie nur daran denkt.
Ich muss auch weiter. 16 Minuten habe ich zum Umsteigen. Ich finde sofort die Anzeigentafel und stelle fest: Mein Zug fährt auf Gleis D. An Gleis A gibt es eine Kaffeebude. Ich will Kaffee. Wirklich dringend. Aber: Das wird knapp. Ich stell mich trotzdem an. Ich bezahle. Ich warte. Und weil ich Sojamilch bestellt habe, kriegen drei Leute, die nach mir bestellt haben, vor mir einen Kaffee. Dann krieg ich meinen. Ein Blick auf die Uhr zeigt: Noch 10 Minuten bis zur Abfahrt. Das schaffe ich, denn ich kann rennen. Ich kann laufen. Schnell wie der Blitz kann ich Zügen entgegeneilen. Es gibt auch keine Rolltreppe, also wuchte ich meinen Koffer dir Treppe hoch, während ich in der anderen Hand meinen Kaffeebecher balanciere und ich finde das wunderbar, weil ich das kann. Und dann hetze ich zum Zug und ich werfe erst den Koffer hinein und dann mich. Und ich finde sofort einen Sitzplatz. Aber ich nehme ihn nicht. Ich bleibe stehen. Weil ich das kann.
Und plötzlich, wie ich da so stehe im letzten der Züge, die ich kriegen muss und der Kaffee warm zu mir hinauf wölkt, bin ich sehr, sehr glücklich.