Frau Fricke wundert sich darüber wie unvollkommen Perfektion ist

Alle sind schwanger in Sydney. Auch der Kumpel von meinem Kumpel wird bald Vater. Und er selbst wird schon ganz nachdenklich. „Sag mal“, fragt er mich, „wenn du ein Kind designen könntest, alle Krankheiten, Übergewicht, Krebsdisposition raus aus den Genen, würdest du das machen?“ Man könnte, findet er, dem Kind damit so viel ersparen. Finde ich auch. Und das ist das Problem.

„Ganz schlechter Zeitpunkt gerade“, sage ich. Ich hab nämlich gerade „The most talented Alex“ kennengelernt. Der macht Führungen durch das Opernhaus von Sydney und trägt seinen Namen völlig zu Recht. Denn, wo Andere Touristengruppen vor sich her treiben und Texte runterleiern ohne deren Sinn verstanden zu haben, da öffnet „Der Talentierte Alex“ Welten. Wenn er über die Falltüren in der Bühne spricht, dann begleitet er diese Erzählung mit so abrupten Bewegungen, dass man sich selbst im freien Fall glaubt. Er dehnt sich über einen nicht enden wollenden Himmel und hebt die Stimme, als würde er täglich selbst alle Rollen aller Shakespeare-Stücke übernehmen und um zu zeigen, wie eine Tänzerin in einen Basskasten passt, macht er sich ganz klein. Das ist seine leichteste Übung. Der talentierte Alex ist kleinwüchsig.

Vielleicht ist „Der Talentierte Alex“ einfach nur unglaublich begabt. Und vielleicht wäre er auch geworden, was er ist, wenn er einen Meter neunzig groß und ein Jüngling in lockigem Haar wäre. Glaub ich aber nicht. Man wird nicht groß – und Alex ist ein ganz Großer, da mag ihn seine Körpergröße noch so verraten – indem man sich zufrieden gibt. Und wer schon gefällt, der kann sich ja auf seinen Lorbeeren ausruhen. Man wird groß, man wächst über sich hinaus, weil man muss. Und dann nicht anders kann. Und dann will.

Mahmoud Abdul-Rauf, zum Beispiel,als Chris Wayne Jackson geboren, war auf allen Fotos seiner Profimannschaft auch so ein Winzling.  Mit 1,85 ist man ein Gnom in der NBA. Wie ist er dahin gekommen? Was ist da passiert?

Ein Defekt. Das ist da passiert. Tourette. Den meisten Leuten bekannt als die Krankheit, die Leute dazu zwingt, zwanzig Mal hintereinander „Titte“ zu schreien oder „Fick dich ins Knie“. Die Krankheit also, die wir alle schon gern mal vorgetäuscht hätten. Zehn mal schreien sie, zwanzigmal. Denn Tourette zwingt die Betroffenen zu Wiederholungen. Ob sie wollen oder nicht. Abdul-Raufs hat nie geschrien. Er hat geworfen. Wieder und wieder, auf Basketballkörbe. Bis der Ball in einem bestimmten Winkel mit einem bestimmten Klang durch den Korb fiel. Erst dann kam die Erlösung. Erst dann konnte er aufhören zu werfen. Und das konnte Stunden dauern. Das hat ihn so brutal trainiert, dass er besser war als all die anderen. Besser als all die großen, besser als alle, die es leichter hatten als er. Erst 2011, mit 41 Jahren hat er seine Karriere beendet. Bis dahin hat er noch in einer Mannschaft gespielt – auch das ungewöhnlich. So ist das eben, wenn man nicht aufhören kann. So ist das mit einer Krankheit. Die prägt. Und das ist nicht immer zum Nachteil.

Auch Stephen Hawking ist vermutlich ein ganz Großer in seinem Feld. Ich kann das nicht wirklich beurteilen, denn das Einzige, was ich von Physik weiß, ist, dass Schrödinger eine Katze hatte, oder vielleicht auch nicht. Was ich aber beurteilen kann ist, dass Stephen Hawking ein Kommunikations-Genie ist. Ich bin mir sicher, dass es eine Menge Physiker gibt, die genauso fabelhafte Theoretiker sind wie er und die gegebenenfalls auch Bücher schreiben können. Aber Stephen Hawking hat ein Physikbuch zu einem millionenfach verkauften Bestseller gemacht. Ein Physikbuch! Kein Krimi, kein Vampirroman, kein Hausfrauensoftporno – ein Physikbuch! Ohne seine Krankheit wäre ihm das, da bin ich absolut sicher, nie gelungen. Denn jeder erinnert sich an ihn und jeder hört ihm zu, denn wenn jemand sie so müht, uns etwas mitzuteilen, dann muss das einfach wichtig sein. Dann müssen wir da einfach hinhören. Selbst die Simpsons haben im zugehört. Die Simpsons! Wieviele Physiker schaffen das?

Von Hawking lernen wir auch, dass Behinderung ganz wesentlich Einstellungssache ist. Die meisten von uns, sein wir ehrlich, hätten sich aufgegeben. Ich hätte mich aufgegeben. „Auch schon egal“, hätte ich gesagt. Und wäre dann eben auch tatsächlich allen anderen egal gewesen. Stephen Hawking aber, der hat begriffen, dass eine Behinderung ein furchtbares Schicksal sein kann – oder ein Alleinstellungsmerkmal. Er hat sich für letzteres Entschieden und dafür hat er meinen allergrößten Respekt.

Arbeit und Struktur, dafür hat sich Wolfgang Herrndorf entschieden, als er von seinem Hirntumor erfuhr. Ein Todesurteil, das war ihm klar. Und ausgerechnet zu dem Zeitpunkt, wo er nach langem Wirken im Verborgenen und nach langem Nagen am Hungertuch endlich, endlich den verdienten Erfolg mit „Tschick“ hatte. Er hat einen Blog daraus gemacht, der nach seinem Tod ein Buch wurde und mich auf eine Weise berührt hat, wie es nur wenige Bücher je erreichen werden. Hätte er wählen können, er hätte sich vermutlich eher für ein langweiliges Leben als einen Tod entschieden, der eine Frau, die ihm völlig unbekannt ist zu Tränen rührt. Aber die Wahl hatte er nicht. Er hatte nur die Möglichkeit, etwas Großes aus seinem Unglück zu machen. Und er hat es getan.

Beethoven war taub, Frida Kahlo nach Meinung ihres Umfeldes ein häßlicher Krüppel und die meisten wunderbaren Künstler vollkommen weich in der Birne. Sie schneiden sich Ohren ab, saufen sich zu Tode oder setzen sich Tintenfische auf den Kopf. Praktisch jeder große Kreative, den ich kenne, hat einen ganz unglaublichen Hau. Genau genommen haben die meisten Menschen, die ich mag oder bewundere irgendeine Macke und genau das macht sie so wundervoll – nicht zwingend glücklich, nicht immer beliebt und leider auch nicht in jedem Fall wirtschaftlich erfolgreich. Aber so wundervoll, dass man sie furchtbar vermissen würde. Es scheint, als müsse man sich das Wundervollsein erleiden.

Außer am Bondi Beach natürlich. Da sind alle jung, alle sind gesund, alle tragen den ganzen Tag Turnschuhe und Sportklamotten und sehen deswegen permanent so aus, als wären sie auf dem Weg in den Gym. Vermutlich sind sie das auch. Wenn sie nicht gerade surfen gehen. Oder schwanger sind. Ich kann mir vorstellen, wie erschreckend es für die „Organic poached egg on rye“ frühstückenden Sprossen-Juppies sein muss, mit Krankheit, Tod und – jetzt kommt das Schlimmste – Unvollkommenheit konfrontiert zu werden. Aber der schlimmste Gedanke kommt erst noch: Wir werden immer ein Normal-Null haben und das wird immer von der aktuellen Norm festgelegt. Im elisabethanischen England galt man schon als überirdisch schön, wenn man noch alle Zähne im Mund und keine auffälligen Hautläsionen hatte. Und in Bondi gilt man schon als jenseits der Norm, wenn man nicht aussieht, als hätte man gerade sein Yoga-Diplom gemacht. Ich bin gespannt, wie lange es dauern wird, bis dem Bondi Baby klar wird, dass es im eigenen Normbereich irgendwie dann eben doch ein Freak ist? Denn es wird immer jemand geben, der noch schlanker ist, noch besser aussieht und noch ein größeres Lungenvolumen hat. Es gibt immer jemanden, der noch schlauer ist, noch mehr Sprachen spricht und noch blondere Haare hat. Und ich hoffe für die Welt, dass es dann immer noch Menschen wie den großen, den großartigen Talentierten Alex gibt. Denn irgendwer wird irgendwo immer zu klein sein. Gott sei Dank! Nur dass er es dann vielleicht mit 1.85 ist.

 

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