Leute wie mich braucht kein Mensch. Australien braucht mich nicht. Australien braucht Handwerker, Lehrer und überhaupt eine Menge kluger und kundiger Menschen. Mich braucht Australien nicht. Jedenfalls nicht auf Dauer, denn ich bin älter als 45. „Dukommshiernichrein.“, sagt ein australisches Gesetz. Und das würde es auch Nobelpreisträgern zuflüstern.
Mit Dingen, die man nicht haben kann, ist es so eine Sache. Bis vor kurzem, hatte ich nicht einmal das Bedürfnis, auch nur besuchsweise nach Australien zu fahren. Hat mich einfach nicht interessiert. Kängurus gibt’s im Zoo, weite unglaublich langweilige Landschaft in der Lüneburger Heide und Strand hab ich auch in Barcelona – nur ohne die tödlichen Tiere natürlich. Nun war ich da, fand es sehr nett und hab nur mal so interessehalber geguckt, wie es sich denn rein theoretisch verhalten würde, wenn ich dem unwahrscheinlichen Impuls nachkäme, dort vielleicht wohnen zu wollen. Ganz eventuell.
Und nun weiß ich, dass das nicht geht. Und jetzt will ich das unbedingt.
Für einen kurzen Augenblick habe ich den Eindruck, dass mir mein Leben durch die Finger tropft und es stellt sich eine Wehmut ein, als wenn das nur das erste Mal in einer langen schmerzvollen Reihe von letzten Malen ist. Und dann wird mir plötzlich klar:
Bullshit!
Immerzu steht man vor irgendwelchen harten Türen. Das ist bei mir nicht anders und das war es auch nie. Ich war nur immer schon durch, bevor mir jemand sagen konnte, dass das eigentlich gar nicht geht.
Ich hab kein Schul-Abgangszeugnis, weil mein Schulabgang – nun ja – nicht wirklich einer konkreten Planung unterlag. Ich weiß noch genau, wie sich das angefühlt hat. Ich war 16 und mein Leben war vorbei. Ich hatte zwar das kleine Latinum, aber das hilft einem in so einer Situation auch nicht weiter. Es gab nur eine einzige Ausbildungsstelle, die mich akzeptiert hat – Bäckereifachverkäuferin. In meinen düstersten Momenten, träume ich, wie ich mit einem lächerlich kleinen Schürzchen vor dem Bauch Brötchen in Tüten zähle und denke: „Das war’s jetzt. Das ist jetzt dein Leben.“ Und auch damals fühlte ich deutlich, wie sich dieses Leben einfach so auflöste und davon flog, bevor es überhaupt begonnen hatte.
Das war ein Irrtum.
Und dieser Irrtum beruhte auf Informationen, die zwar durchaus valide waren, aber wenig hilfreich in meiner Situation – und vor allem nicht zwingend. Erfreulicher Weise war ich von da an einem eklatanten Mangel an belastbaren Informationen unterworfen. Irgendwer hatte mir gesagt, man könne studieren, wenn man sich wirklich viel Mühe geben und absurd viel arbeiten würde. Jeder kann das schaffen. Der große deutsche Traum von der Klassenlosigkeit. Der Hit der Siebziger, Achtziger und das Beste von heute.
Also habe ich absurd viel gearbeitet. Und ich hab studiert. Jahre später habe ich gelesen, dass das eigentlich gar nicht möglich ist. Ich bin nämlich der einzige Akademiker meiner Familie, weiblich und ich habe keinerlei finanzielle Unterstützung erhalten. Leute wie ich studieren nicht. Und wenn sie studieren, dann schließen sie nicht ab. Wenn ich das vorher gewusst hätte…
Ich wusste auch nicht, dass es praktisch unmöglich ist, Texter bei Scholz & Friends zu werden. Ein entfernter Vetter hat mich darüber aufgeklärt, getragen von seiner Erfahrung, mehrfach abgelehnt worden zu sein. Allerdings etwas verspätet, denn zu dem Zeitpunkt hatte ich den Job schon ein halbes Jahr und Springer & Jacobi hatten gerade mit einem Gegenangebot angerufen – auch was, was nie passiert. Und wo man überhaupt praktisch nie reinkommt, das ist BBH, London. Jedenfalls hat Jean-Remy von Matt das mal zu mir gesagt und der kennt sich aus. Gut, dass ich den erst kennengelernt habe, nachdem ich bei BBH gekündigt hatte – nach 7 Jahren.
Zwei von drei neu gegründeten Firmen treiben nach nur drei Jahren mit dem Bauch nach oben träge dahin. Auch sowas, was ich nicht wusste. Nur 20% der Gründer sind Frauen und die meisten von denen kommen praktisch nie über den Mindestlohn. Schon wieder eine Information, über die ich nicht verfügt habe, als ich mich selbständig gemacht habe. Sonst hätte ich mich vielleicht daran gehalten. Wer weiß?
Und auch die meisten Auswanderer sind nach drei Jahren pleite und frustriert wieder zu Hause und wärmen sich am heimischen Herd, die Wunden leckend, die ihnen eine fremde unbekannte Welt geschlagen hat. Davor hat mich keiner gewarnt. Und vielleicht ist es allein dieser Tatsache zu verdanken, dass ich auch heute noch, eine Dekade später, in Barcelona hocke und merke, so langsam könnte ich ja auch mal woanders hinziehen. Zurück nach Deutschland vielleicht. Oder nach Australien zum Beispiel.
Kurz: Rein statistisch bin ich pleite, deprimiert und inexistent. Erfreulicher Weise habe ich die Statistik aber nicht gelesen.
Und das mit Australien, das auch nicht.