Das chinesische Schriftzeichen für das Wort „Krise“ setzt sich aus zwei Stammzeichen zusammen: Dem Zeichen, das die größtmögliche Chance auf ungeahnte Verbesserungen anzeigt und dem, das die Bedrohung durch einen katastrophalen Niedergang beschreibt. Warum eigentlich sehen wir immer nur das zweite?
Es ist schon über 10 Jahre her, da habe ich mich auf einem Werber-Kongress, dem „Hamburger Dialog“ ganz furchtbar gelangweilt. Ich hatte Neuigkeiten erwartet, Umwälzungen, irrsinnige Erkenntnisse. Und dann das: das große Nichts.
In einer Podiumsdiskussion darüber, wie sich die Branche in der kommenden Dekade verändern würde, saßen alle, die sich für die Führer der führenden Agenturen hielten -angemessen erhöht über dem zahlreich erschienenen Publikum. Super sahen die aus, in ihren Maßanzügen, den Seidenkrawatten und den italienischen Schuhen. Und sie taten, was sie immer tun: sich gegenseitig jovial auf die im Gym gestählten Schulter schlagen und einander bestätigen, dass da, wo sie sind, aber mal ganz eindeutig vorn ist.
Alle, außer einem.
Ganz links, am äußeren Rand des Podiums, so als wäre er nur der versehentliche Überstand in dieser perfekten Welt, saß ein Mann wie ein Monolith. Atemberaubend raumgreifend. Ihn als übergewichtig zu bezeichnen, wäre ein unzulässiger Euphemismus. Unter schwarzen Überwürfen von gigantischem Ausmaß wucherte ein völlig außer Kontrolle geratener Körper, der sich offenbar längst selbst zum Feind geworden war. Der Referent war im Rollstuhl angereist und er atmete gelegentlich durch eine Maske, die mit einer Gasflasche verbunden war. Wenn es jemals einen Gegenentwurf für die schöne Welt der Werbung gab, dann ihn. Was kann so einer schon zu sagen haben? Nichts! Und so saß er da und schwieg. Sehr lange.
Die Führer der führenden Agenturen wussten dafür umso mehr zu sagen: Ach, Veränderungen der Branche, sagten sie, ist doch lächerlich! Permanent wird eine neue Sau durchs Dorf getrieben und dann? Nichts! Der Führer der allerführendsten Agentur, Springer & Jacobi, hatte auch ein Beispiel dafür: Das Internet. Umwälzungen wären angekündigt worden. Revolutionen. Der Untergang der Medienwelt, wie wir sie kennen und was war passiert? Nix war passiert. Außer, dass man jetzt eben auch noch Websites machen musste. Sonst: Alles beim Alten. Und so bleibt es auch. Keine Panik! Es wird immer Leute geben, denen es langweilig wird. Und weil das so ist, würden sie auch immer fernsehen und in Zeitschriften blättern. Anzeigen und 30-Sekünder hätten praktisch Ewigkeitswert.
Erst ganz zum Schluss wurde der Koloss vorgestellt. Extra aus den USA war der angereist. Und es mag zum Teil seiner Optik geschuldet sein, dass es mir heute so erscheint, als walzte er über all den unsinnigen Frohsinn wie ein Naturereignis. Es sei möglich, sagte er, dass er das Fortschreiten der Technik in Europa überschätzte, aber in den USA gäbe es bereits technische Möglichkeiten, Werbeblöcke einfach auszufiltern. Sowie die Leute die Möglichkeit dazu hätten, würden sie das selbstverständlich auch tun. Und wo, wollte er wissen, würden denn die superhübschen Bengel aus den Super-Agenturen dann ihre 30-Sekünder platzieren? Obwohl auch er die heute aktuellen Entwicklungen im Detail nicht voraussehen konnte, prophezeite er einen maximalen Umbruch, der die Bereitschaft voraussetzen würde, bekannte Dinge völlig neu zu interpretieren.
Toll!
hab ich gedacht. Und ich hab sofort angefangen, nachzudenken, was das bedeutet. Welche neuen Möglichkeiten das eröffnet, wie man dem begegnen könnte. Da könnten ja ganz neue Formate entstehen. Ganz neue Dimensionen kreativer Entfaltung. Ich fand das aufregend. Da wollte ich gern dabei sein! Ich war damals schon sicher: Werbung, Meinungsbildung ganz im allgemeinen wird künftig in die Inhalte abwandern. Als Story-Teller fand ich das super.
Die Stimmung auf dem Podium war eine andere. Irgendwo zwischen Belustigung, Herablassung und schriller Panik gerierten sich die Agenturführer wie Kapitäne eines auf Grund gelaufenen Kreuzfahrtdampfers, die den Vorschlag, die Beiboote abzuseilen mit der Bemerkung abbügeln, dass das Geräusch die Black-Jack-Spieler ablenken könnte. Mit vereinten Kräften ließen sie eine Diskussion über die Möglichkeiten, die Veränderung mit sich bringt gar nicht erst aufkommen, sondern spendeten Trost. Nichts würde sich verändern. Niemals. Immer würde alles genauso bleiben, wie es jetzt ist. Nur keine Panik.
Wir wissen inzwischen, wie die Geschichte weitergegangen ist. Schauen wir uns die Entwicklung zwischen den Referenzpunkten 2004 und 2016 an, stellen wir fest, dass sie weit über die Voraussage hinausgegangen ist. Man kommt inzwischen ohne Fernseher und Zeitschriften aus, Freunde auf verschiedenen Seiten des Erdballs geben sich Kaufempfehlungen in Echtzeit und in richtigen echten Kinos und auf Streaming-Portalen laufen schon heute Spielfilm-Produktionen, denen man ansieht, dass sie eigentlich eher eine amüsante Form der Produkt-Präsentation sind.
Ich find das immer noch toll.
Und Springer & Jacobi? Springer & Jacobi findet nichts mehr toll. Oder schlimm.
2010 ist Deutschlands ehemals führende Agentur nach langer schwerer Krankheit sanft entschlafen.
Weiji jihui